„Ganz im Osten ist es wie ganz im Westen“

Der Journalist und ehemalige MDZ-Redakteur Jens Mühling hat die ganze Ukraine bereist und ein facettenreiches Portrait des zerrissenen Landes geschrieben. Ebenfalls lesenswert sind seine Exkurse in die Vergangenheit, auch seine persönliche.

Jens Mühling: Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine, Rohwolt 2016

Jens Mühling: Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine, Rohwolt 2016

Man kann Bücher nach der Lektüre zurück ins Regal stellen. Oder man kann sie noch einmal ganz vorne aufschlagen, um sich den Weg zu vergegenwärtigen, den man da zwischen zwei Buchdeckeln zurückgelegt hat. Letztere Vorgehensweise empfiehlt sich für Jens Mühlings bereits im Frühjahr erschienene ukrainische Reiseerzählung „Schwarze Erde“ ganz besonders. Jedes der 15 Kapitel taucht vom westukrainischen Lemberg bis in das im Separatistengebiet der Ostukraine gelegene Donezk in eine eigene Welt ein. Jede dieser Welten ist aus sich heraus verständlich. Ihre ganze Widersprüchlichkeit erfasst erst, wer die Stationen der Reise durch ein „Land in der Zerreißprobe“ noch einmal Revue passieren lässt.

Oder ist alles vielleicht ganz anders? Sind die Sprachen, Religionen und Ideologien, die die Ukraine so gegensätzlich geprägt haben, letztlich nur Oberfläche? Verbindet den Osten des umkämpften Landes mehr mit seinem Westen, als sich die Konfliktparteien eingestehen wollen? Auch dieser Lesart bietet der Autor Nahrung. „Ganz im Osten“, schreibt Mühling über einen Besuch in einem trostlosen ukrainisch-russischen Grenzdorf, „ist es wie ganz im Westen der Ukraine. Traurig blicken die Menschen auf die andere Seite der Grenze, wo das Leben besser ist.“

Sicher scheint nur: Um ein Buch über die Ukraine zu schreiben, muss man sich, wie Mühling, die Mühe machen, das ganze Land zu bereisen, inklusive seiner Teile, die nicht mehr unter Kontrolle der Kiewer Regierung stehen. Es ist eine Gratwanderung, den Menschen auf allen Seiten der Konfliktlinien zuzuhören, sie ernst zu nehmen, ohne einseitig Partei zu ergreifen, ohne darüber aber auch in Relativismus zu verfallen und Maßstäbe der Moral, des Journalismus und des gesunden Menschenverstandes beiseitezuschieben. Mühling gelingt sie zumeist.

Was wesentlich zu diesem Gelingen beitragen dürfte, ist die Tatsache, dass Mühling dem Leser nicht als allwissender Erzähler gegenübertritt, sondern ihn an seiner schrittweisen Annäherung an die Ukraine teilnehmen lässt. Es ist eine Annäherung, die biographisch mit einer russischen Perspektive beginnt: Bevor er zum Berliner „Tagesspiegel“ ging, war Mühling zwei Jahre lang Redakteur bei der MDZ. Von Moskau aus reiste Mühling vor mehr als einem Jahrzehnt das erste Mal nach Kiew und nahm „die Ukraine noch als eine Art russischen Randbezirk“ wahr. Erfrischend ehrlich ist sein Eingeständnis, er habe trotz mehrfacher Ukraine-Reisen „nichts, gar nichts“ von den dramatischen Ereignissen des Jahres 2014 kommen sehen, die das Land plötzlich in den Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit rückte.

Denn wer hatte all das schon kommen gesehen? Im Nachhinein wirkt der Konflikt fast unvermeidlich, wenn man Mühlings Reise folgt, wenn man seinen Gesprächspartnern zuhört und sieht, welch explosives Gemisch sich da zusammengebraut hatte. Im Nachhinein.

Im Nachhinein ist es einfach, die Kämpfer um Stepan Bandera zu verurteilen, die im Zweiten Weltkrieg gemeinsame Sache mit den Nazis machten, um ihren Traum einer unabhängigen Ukraine zu verwirklichen. Jens Mühling verurteilt den alten Veteranen nicht, der ihm im westukrainischen Lemberg seine Lebensgeschichte erzählt. Ebenso wenig verurteilt er die unverbesserliche Sowjet-Nostalgikerin in Kiew, die ungeachtet Millionen Hungerstoter unter Stalin einen Propagandastreifen über die Kollektivierung in der Landwirtschaft als besten Film empfiehlt, der je in ihrer Stadt gedreht wurde. Mühling hört ihnen zu, ebenso wie er Kämpfern auf beiden Seiten der Front zuhört. Mühling nimmt die Menschen ernst, während er Ideologien hinterfragt. Es ist das, was guten Journalismus ausmacht.

Mit den aberwitzigen Verflechtungen von Vergangenheit und Gegenwart, die Mühling zutage fördert, beschäftigt sich auch ein Kapitel, das der Verstrickung der Vorgängerorganisation des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) in die nationalsozialistische Rassenpolitik gewidmet ist. Es war das ifa mit Sitz in Stuttgart, das Mühling vor Jahren als Redakteur zur MDZ entsandte. Und es war das Deutsche Ausland-Institut, Vorgänger des ifa, das im Zweiten Weltkrieg einen gewissen Dr. Karl Stumpp in die besetzte Ukraine entsandte, um die dort ansässige deutsche Minderheit per Fragebögen nach rassekundlichen Kriterien auf sogenannten „Sippenkarten“ zu erfassen. Stumpps Urteil über den „rassekundlichen Reinheitsgrad“ konnte Leben retten oder aber auch das Todesurteil bedeuten. Ebenjener Stumpp leitete nach dem Krieg die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und erhielt noch 1966 das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Stumpp, geboren in einem Dorf bei Odessa, war Russlanddeutscher (oder Ukrainedeutscher, wie Mühling ihn auch nennt), und er betrieb im Zweiten Weltkrieg aktiv die Sache der Nazis. Dass der Umkehrschluss auf etwaige Sympathien der russlanddeutschen Bevölkerung der Sowjetunion für Hitler nicht zulässig ist, weiß Mühling und macht auch dies deutlich. Stalins Deportationsbefehl von 1941 ist für ihn der „innere Monolog eines Paranoikers“. Den ganzen Irrsinn der sowjetischen Politik gegenüber den Russlanddeutschen illustriert Mühling in der Episode mit den Hakenkreuzfähnchen, die von den Behörden 1939 in Vorbereitung eines geplanten Hitlerbesuchs im Wolgagebiet in deutschen Dörfern verteilt wurden. Zwei Jahre später sollen ebenjene staatlich ausgegebenen Fähnchen dazu gedient haben, ihre Besitzer als Nazis zu diskreditieren und zu erschießen.

Gegen die bittere Ironie der Geschichte stehen bei Mühling Liebesgeschichten, die in ihren Verwicklungen teils unwahrscheinlich anmuten. Sie spielen im geteilten Berlin und in der kasachischen Verbannung ebenso wie in der ukrainischen Steppe zu Zeiten des Kiewer Fürstentums. Die Liebe siegt in allen drei Fällen, irgendwie zumindest. Gibt es Hoffnung für die Ukraine? Ist die Menschlichkeit am Ende stärker als alle Ideologien? Kann es auch ein kleines Glück im großen Unglück geben? Wer möchte, dem lässt Mühling die Möglichkeit zu dieser Lesart. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Robert Kalimullin

 

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