Fritz Mierau: Brüche, Abschiede, Aufbrüche ins Unbekannte

„Brüche, Abschiede, Aufbrüche ins Unbekannte: keine literatur-historischen Reminiszenzen, sondern einen Lebensstil“, nannte Fritz Mierau seine eigenen Arbeiten. Als Übersetzer, Herausgeber, Essayist und Slawist prägte er die Rezeption russischer Literatur für mehrere Generationen in der DDR und darüber hinaus bis heute. Jetzt ist Fritz Mierau im Alter von 83 Jahren gestorben. Über seine Bedeutung spricht die deutsche Schriftstellerin und Journalistin Annett Gröschner.

Leipzig, März 1996, Festsaal des Alten Rathauses, Fritz Mierau erhält den Leipziger Buchpreis der Europäischen Verständigung. /Foto: Gabi Waldek

Frau Gröschner, welche Bedeutung hat Fritz Mierau für die Beziehungen zwischen Deutschen und Russen?

Ich würde das subjektiv beantworten. Ich bin 1964 geboren und wir sind natürlich mit dem offiziellen Kanon der Sowjetliteratur aufgewachsen. Fritz Mierau hat uns gezeigt, dass es noch ewas anderes gibt, die Literatur der Leute, die verfolgt waren, erschossen oder im Gulag gestorben, Mandelstam, Tretjakow, Zwetajewa oder Achmatowa. Es war für uns von immenser Bedeutung, diese Literatur zu lesen, auf Deutsch zu lesen. Und er hat sie uns erklärt. In meinem Bücherregal, da sind zweieinhalb Meter russische Literatur und die Hälfte davon hat mit Fritz Mierau zu tun. Er ist für zwei oder drei Generationen überaus wichtig und prägend gewesen. Gemeinsam mit Sieglinde Mierau, die da immer mit zu nennen ist.

Fritz Mierau nennt seine Autobiografie „Mein Russisches Jahrhundert“.

Ja, das 20. Jahrhundert als ein Jahrhundert der Verwerfungen und der grausamen Geschichte, aber gleichzeitig dieser wunderbaren Literatur, die da geschrieben wurde, das ist, glaube ich, sein Thema gewesen. Und immer auch in der Spiegelung der Geschichte. Da sind diese Epochenbrüche wichtig – alles was auch mit 1989 zu tun hat. Die Literatur nahm die Brüche vorweg, die sich später auch politisch vollzogen haben. Diese Widersprüchlichkeiten des Systems, die man offiziell nicht erfahren hat, standen in der Literatur, manchmal zwischen den Zeilen. Die ganze Geschichte um Stalin kannten wir aus der Literatur und nicht aus Geschichtsbüchern – bis 1989.

Wie spiegelt sich die deutsch-russische Beziehung in der Biografie Fritz Mieraus?

Er ist 1934 geboren und gehört zu denjenigen, die sich vom Anfang der DDR an mit russischer Literatur beschäftigt haben. Nachdem er an der Humboldt-Universität studiert hatte, hatte er die geistige Freiheit, sich außerhalb von Institutionen mit Dingen zu beschäftigen, die ihn wirklich interessiert haben. Ich denke, das ist etwas, das ihn hervorhebt: Er hat die Dinge nicht für Geld gemacht, sondern weil er sie machen musste.
Zum Beispiel Pawel Florenski. Dieses Werk zu veröffentlichen und zu begreifen, war eine Pionieraufgabe und die hat er gemacht, ohne einen Auftrag dazu zu haben. Und gerade in den 90ern war das ein enorm wichtiger Autor für deutsche Intellektuelle.

Hatte Fritz Mierau, der sein ganzes Leben an dieser Grenze und an dieser Schnittstelle stand, einen bestimmten Fokus in seinem Interesse an der Geschichte zwischen Deutschen und Russen?

Ihn hat immer interessiert: Wo fanden die wirklichen Begegnungen statt? Das am populärsten gewordene Werk ist sicher „Russen in Berlin“. Da ist die Schnittstelle zwischen Russland und Deutschland ganz, ganz stark. Er hat aufgearbeitet, wer wann wo gewesen ist und er hat sie alle zusammengebracht, die vor allem in den 20ern in Deutschland waren: Marija Zwetajewa, Ossip Mandelstam, Boris Pasternak, Andrej Belyj, Wladimir Majakowskij, Anna Achmatowa, Isaak Babel, Alexander Blok, auch Schklowskij oder Ilja Ehrenburg. Es waren gerade die, die die Verbindungen zur Sowjetunion nicht haben abreißen lassen. Aber auch immer in der Spiegelung mit den deutschen Autoren, wie Franz Jung und Walter Benjamin, die wiederum in Russland waren und Verbindungen oder Freundschaften gepflegt haben, wie die von Walter Benjamin zu Asja Lacis.

Diese Schnittstelle zwischen Deutschen und Russen ist bis in die Sprache hinein wichtig. Weil sie sich gegenseitig aufnehmen. Wenn die Mieraus Bücher herausgegeben haben, russische Lyrik, dann waren daran die besten deutschen Dichter beteiligt und haben nachgedichtet. So ergab sich eine große Reihe deutscher Autoren, die gut bewandert waren in der russischen Lyrik, weil sie die übersetzt haben. Dieses Gefühl für russische Literatur haben sie weitergetragen. Tatsächlich gibt es in Deutschland russische Erinnerungen, die heute noch wirken – dass man zum Beispiel manchmal im Scherz von Charlottengrad redet, wenn es um Charlottenburg geht.

Als eine Person, die wichtige Brücken zwischen Russland und Deutschland schlägt, kennen viele Lew Kopelew – aber ist Fritz Mierau nicht im Grunde eine vergleichbare Figur in der Entschiedenheit, mit der er Brücken schlug? Wie kommt es, das er außerhalb von Fachkreisen der breiten Öffentlichkeit weniger bekannt ist?

Fritz Mierau war kein Mensch, der die Öffentlichkeit gesucht hat. Er hat seine Arbeiten mehr im Verborgenen gemeinsam mit seiner Frau gemacht. Auch als Autor – er war ja auch ein wunderbarer Essayist. Es war ihm vor allem wichtig, dass nichts in der Schublade landet. Dafür hat er gekämpft, auch wenn es manchmal Jahre gedauert hat, bis ein Buch erschien. Bei Mierau findet man die großen Schätze auf den zweiten Blick.

Fabiane Kemmann

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