Familiengeschichte im Kamerafokus

Am Ende ihres Studiums hat sich die Fotografin Sascha Bauer auf die Spuren ihres russlanddeutschen Großvaters begeben, dem sie sehr nahesteht. Es ist die Geschichte eines tragischen Lebens in der Sowjetunion und der Suche der Künstlerin nach sich selbst.

Hier könnte Familie Bauer einst gewohnt haben: Gedenkschilder in einer Ruine in Schtscherbatowka. (Foto: Sascha Bauer)

Petersburg. Geboren wurde die junge Frau aber in der westsibirischen Ölstadt Surgut. Seit gut zehn Jahren wohnt Sascha in der Kulturmetropole, wo sie ihre Begeisterung für die Fotografie entdeckte. 

Seitdem Sascha denken kann, kennt sie die Geschichte ihres Großvaters Alexander. Es ist eine tragische Geschichte über eine einsame Kindheit und den Zwang, sein Deutschsein zu vergessen. Sascha fühlt sich ihrem Großvater verbunden, schließlich hat er ihr nicht nur den Namen (Anm. d. Red.: Sascha ist die Koseform von Alexandra), sondern auch einige Charakterzüge und die Weltanschauung vererbt. „Uns verbindet das Gefühl des Fremdseins – er ist ein Fremder und ich bin es auch. Daraus ergibt sich alles andere – die Verschlossenheit und die Neigung, sich zu verteidigen“, erzählt die Fotografin. Ihr Projekt „Sasha Bauer“ ist ein Katalog voller Bilder, die sie mit ihrem Großvater verbinden. Und gleichzeitig der Versuch zu verstehen, warum sie so ist, wie sie ist. 

Ein Leben zwischen der Wolga und Sibirien 

Alexander Friedrichowitsch Bauer verbrachte seine ersten Lebensjahre gemeinsam mit den Geschwistern Robert und Lida in der Kolonie Mühlberg (heute Schtscherbatowka) in der Wolgadeutschen Republik. Von dort wurde die ganze Familie im Herbst 1941 als „sozial gefährliche Personen nach nationalen Kriterien“ in das westsibirische Gebiet Omsk deportiert, in das Dorf Gawrino.  Dorthin, wo es karg und im Winter bitter kalt ist. Als die Soldaten kamen, um die Bauers abzuholen, war Alexander sieben Jahre alt.

Sein Vater Friedrich kam in ein Arbeitslager, wo er kurz darauf verstarb. Über das Schicksal der Mutter Amalie ist nicht viel bekannt. Sicher ist nur, dass auch sie nicht mehr lange lebte. Unklar ist aber, wie sie zu Tode kam. Alexander fand sich mit seiner Schwester, die bald darauf starb, in einem Kinderheim wieder. Robert, der jüngste, kam in ein Waisenhaus für Kleinkinder, wo sich seine Spur für viele Jahre verlor. Alexander blieb alleine zurück. „Wenn er Deutsch gesprochen hat, wurde er hart bestraft. Russisch konnte er aber nicht. So blieb ihm keine andere Wahl, als Russisch zu lernen und Deutsch für immer zu vergessen“, sagt die Enkelin. 

Rehabilitierung erst im neuen Russland

Mit 18 Jahren wurde Alexander in die Armee eingezogen. Entgegen aller „Ratschläge“ behielt er seinen deutschen Nachnamen. Sein Vatersname wurde kurzerhand zu Fjodorowitsch russifiziert. Nach seinem Wehrdienst arbeitete Alexander als Fahrer in einer Kolchose und heiratete die Tochter des Vorstehers – gegen den Widerstand der Eltern. Zu dieser Zeit wurde das Dorf Gawrino aufgelöst. Und so zog Alexander mit seiner Frau nach Prokutino, ins heutige Gebiet Tjumen. Der Großvater wollte nah am Verbannungsgebiet bleiben. Schließlich waren dort die anderen Deutschen, von denen es damals noch viele gab, sagt Sascha. 

Auf die Rehabilitierung musste Alexander lange warten. Erst im postsowjetischen Russland wurde er 1998 von den Vorwürfen freigesprochen. Heute ist der Großvater 86 Jahre alt und wohnt in Surgut. Dorthin haben ihn seine Kinder geholt. „In unserer Familie gab und gibt es keine deutschen Traditionen. Mein Großvater wurde aus seinem kulturellen Kontext herausgerissen und in die sowjetische Wirklichkeit eingepflanzt. Für ihn sind das alles sehr schmerzhafte Erinnerungen“, meint Sascha. „Im Geiste sind wir uns sehr nah. Aber er öffnet sich nicht, lässt niemanden an sich heran. In meiner Kindheit habe ich viel Zeit bei ihm auf dem Dorf verbracht. Er meinte, dass ich seiner Mutter ähnele. Im Haus über dem Sessel hing das einzige Porträt seiner Eltern. Mein Großvater hat die Parallelen gespürt.“ 

Der Versuch, die Familiengeschichte zu erzählen

Sascha erklärt, dass die Familie die Geschichte immer wieder mal aufschreiben wollte, als eine Familienerzählung. Doch all die Jahre ist irgendwie niemand dazu gekommen. „Kurz vor dem Ende meines Studiums an der Akademie für Fotografie musste ich ein Projekt vorbereiten. Zu dieser Zeit starb meine Großmutter und ich habe meinen Großvater in Surgut besucht. Wir haben viel über sein Leben gesprochen und ich habe das tiefe Verlangen gespürt, seine Geschichte zu erzählen. So entstand mein Projekt“, erklärt Sascha.

Gemeinsam mit ihrer Schwester begann sie darauf, in Unterlagen und Hinterlassenschaften der Familie zu wühlen. Die Fotografin reiste sogar in die alte Heimat ihres Großvaters, in das Steppengebiet an der Mittleren Wolga. „Das Dorf stirbt langsam. Ein Teil der Häuser ist verfallen, der andere in gutem Zustand. Es gibt sogar Autos mit deutschen Nummernschildern. Es scheint also noch Menschen zu geben, die eine Verbindung zu ihren Verwandten aufrecht erhalten. Das Haus meines Großvaters konnte ich leider nicht finden. An die Adresse kann sich niemand erinnern. Vielleicht gibt es das Haus einfach auch nicht mehr“, fasst Sascha ihre Reise ein wenig enttäuscht zusammen. 

Bevor sie in der Fotografie ihre Bestimmung fand, hat Sascha zunächst Psychologie studiert. Für ihr Projekt hat sie deshalb die Methode der Familienaufstellungs des deutschen Psychoanalytikers Bert Hellinger verwendet. „Bei dieser Methode wird der Mensch als Teil des Familiensystems betrachtet. Er ist der Erbe und kann die Probleme seiner Vorgänger lösen“, schreibt die Fotografin in der Anmerkung zu ihrem Projekt. 

Eine Arbeit st voller Symbole

Das Ergebnis ihrer Arbeit sind fotografische Symbole: Hier ist Sascha selbst, dort ihr Großvater während seiner Jugend. Eine andere Reihe stellt Gegenstände aus ihrem und aus seinem Haus gegenüber – ein angeschnittenes Brot, daneben Hammer und Sichel und ein Porträt Stalins, bedeckt mit roten Farbtropfen. Die einzelnen Bilder sagen erstmal nicht viel aus, alle zusammen aber erzählen eine Geschichte.

Endstation Sehnsucht. In Schtscherbatowka konnte Sascha Bauer keine Spuren ihres Großvaters mehr finden. (Foto: Sascha Bauer)

Im September 2019 präsentierte Sascha ihr Projekt der Öffentlichkeit. Auf ihrer Homepage kann man sich davon einen Eindruck verschaffen. Momentan arbeitet Sascha am Buch zu ihrem Projekt. „Mein Großvater hat es noch nicht gesehen, aber ich hoffe, dass ich es ihm irgendwie schicken kann. Meine Mutter hat mich gelobt und gesagt, dass sie mich nun als Fotografin und Psychologin sieht. Und meine Schwester hat zugegeben, dass sie stolz auf mich ist.“ 

Die Geschichte des Großvaters ist nicht ungewöhnlich für Saschas Arbeit. Zu ihrem Portfolio gehören mehrere Projekte, die bereits in Fachjournalen für Fotokunst veröffentlicht wurden. Sie alle verbindet der persönliche Zugang der Künstlerin. Egal ob flüchtige Bekanntschaften und Treffen oder Nachrichtenmeldungen – all das wird zum Forschungsthema, einer Erforschung der Welt durch sich selbst. 

Ljubawa Winokurowa

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