Es geht ans Eingemachte

Ein Volk von Selbstversorgern waren die Russen schon immer. Die Speisekammer für den Winter mit Leckereien aus Garten, Wald und Wasser zu füllen, ist der Stolz selbst vieler Städter. Mit der Krise hat der Stellenwert der eigenen Ernte weiter zugenommen.

Von der Hand in den Mund: Rentnerin Antonina Russakowa / Foto: Anastassija Buschujewa

Die Reallöhne in Russland sinken immer schneller. Im August belief sich das Minus nach Angaben des staatlichen Statistikdienstes Rosstat auf 8,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat, nach 4,8 Prozent im Juni und 7,3  Prozent im Juli. Die negative Entwicklung der Reallöhne hält nun schon 22 Monate an. Gewachsen waren sie zuletzt im Oktober 2014.

Bereits im Frühjahr hatte eine Studie der Präsidenten-Akademie RANEPA gezeigt, dass die Russen erstmals seit der Krise von 2008 und 2009 wieder mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Vor diesem Hintergrund wenden sich viele verstärkt den eigenen Gärten zu, die in Russland traditionell nicht nur die Dorfbevölkerung besitzt. Laut Statistik haben zwei Drittel der Großstädter und sogar 90 Prozent der Kleinstädter eine Datscha, also ein Grundstück auf dem Lande. Dort wurde auch früher schon allerlei Obst und Gemüse angebaut. Doch was in guten Zeiten vor allem dem Spaß an der Freude dient, hat in schlechten Zeiten auch eine wirtschaftliche Komponente.

Im Garten von Rentnerin Antonina Russakowa bei Ramenskoje südöstlich von Moskau wuchsen bisher vor allem Blumen. In diesem Jahr hat stattdessen Gemüse auf den gepflegten Beeten die Vorherrschaft übernommen: mit Gurken, Tomaten, Roten Beeten und Küchenkräutern vor allem. Russakowa bezieht eine monatliche Rente von 16 000  Rubel, umgerechnet knapp 230 Euro. Nach Abzug der Wohnnebenkosten bleiben ihr 6000   Rubel  – 85 Euro –zum Leben. Da müsse man sich schon etwas einfallen lassen, sagt sie. „Ansonsten kann einem ja angst und bange werden.“ Von Juli bis Oktober wird fleißig eingekocht, was der Garten hergibt, von Obstmarmelade bis zu Gemüse­letscho. Im Keller der Russakows haben sich zum heutigen Tag bereits 150 Einweckgläser verschiedenen Inhalts angesammelt. Weil das mehr ist, als die Familie verbrauchen kann, wird ein Teil davon privat verkauft. Das bringt im Schnitt um die 20 000  Rubel pro Saison ein. Damit die Ernte auch unter den Bedingungen des Moskauer Umlands möglichst reichlich ausfällt, empfiehlt es sich, den Boden im Moskauer Umland mit Schwarzerde zu veredeln. Weil man dafür jedoch tief in die Tasche greifen muss, behilft sich Antonina Russakowa auf altbewährte Art: „Wir fahren zum Bauernhof und besorgen uns Mist als Dünger.“

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Die Speisekammer mit eigenen Produkten / Foto: Anastassija Buschujewa.

Wie das Marktforschungsunternehmen GfK herausgefunden hat, kommen bei 46 Prozent der Russen Lebensmittel aus eigenem Anbau auf den Tisch. In Deutschland sind es laut „Apotheken Umschau“ rund 38  Prozent. Doch mehr noch als bei den Quantitäten unterscheiden sich beide Länder bei den Prioritäten: Für die Deutschen ist das selbst erzeugte Obst und Gemüse vor allem ökologisch unbedenklich und wenn überhaupt, dann erst in zweiter Linie ein Beitrag zur Entlastung der Haushaltskasse, bei den Russen ist es heutzutage vielfach umgekehrt. Der Journalist Andrej Tumanow, Vorsitzender der Organisation „Kleingärtner Russlands“ und Abgeordneter der Staatsuma, hat bereits in den 90er Jahren einen sogenannten Kartoffelindex als Indikator für die wirtschaftliche Lage entwickelt. Der besagt, dass es Russland umso schlechter geht, je mehr Kartoffeln auf den Millionen Privatgrund­stücken angepflanzt werden, weil das davon zeugt, wie sehr die Menschen sparen müssen. In diesem Jahr wurde zu Saisonbeginn ein 30-prozentiger Anstieg beim Verkauf von Kartoffelsamen gemeldet.

Suchmaschinen registrieren bereits seit geraumer Zeit ein gesteigertes Interesse an der Pflanzenzucht. Populäre Anfragen sind etwa „Sät man Karoffeln mit den Sprossen nach oben oder nach unten aus?“ oder „Wie lange vor der Aussaat sollten Kartoffeln keimen?“. Offenbar sind viele zum ersten Mal mit derartigen Einzelheiten konfrontiert. Auch bei OBI boomt in Russland das Geschäft mit Gartenbauartikeln. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete im Frühjahr, der Saatgutverkauf habe um fast 40 Prozent angezogen, was speziell der Nachfrage bei Gemüsekulturen wie Tomaten, Gurken, Paprika und Kräutern geschuldet sei.

Doch die Russen setzen nicht nur auf Landwirtschaft. Laut dem Meinungsforschungsinstitut WZIOM sammeln 44 Prozent auch Pilze und Beeren, 25 Prozent gehen Angeln. Für Antonina Russakowa ist sowohl das eine wie das andere in der warmen Jahreszeit Routine. Mit Verwandten und Nachbarn macht sie sich regelmäßig auf in die Natur. Nur die Erträge beim Angeln haben dieses Jahr zu wünschen übriggelassen. „Die Fische wollten irgendwie nicht anbeißen“, erzählt sie und hat auch gleich einen Grund dafür parat: 2016 ist ein Schaltjahr. Aber es geht ja nun bald zu Ende. Und nächstes Jahr wird dann hoffentlich nicht nur beim Fischfang vieles besser.

Anastassija Buschujewa

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