Im Kampf um das historische Erbe Stawropols

Heute wird in Stawropol, einer der größten Städte des Nordkaukasus, die entschwindende Schönheit, die russischen Städten des 19. Jahrhunderts eigen war, erhalten. Das ist das große Verdienst der Aktivisten der Stadt, die um die Aufmerksamkeit der Obrigkeit und einer breiten Öffentlichkeit für das architektonische Erbe Stawropols bemüht sind.

Das Haus in der Karl-Marx-Straße in der Restaurierung (Foto: Tom Sawyer Fest)


Stawropol wurde 1777 gegründet. Es war eine Festung, die zum Schutze der südlichen Grenzen des russischen Reiches errichtet worden war. Diese „Schutzfunktion“ erfüllte die Stadt im gesamten 19. Jahrhundert. Hier lebten vorwiegend Kosaken, Militärs und Kaufleute, hierher wurden diejenigen verbannt, die Schuld auf sich geladen hatten, zum Beispiel die Dekabristen. Aber auch der widerspenstige Dichter Alexander Puschkin weilte hier.

Auch wenn heute die historischen Gebäude von modernen Hochhäusern und Einkaufszentren verdrängt werden, gibt es noch Straßen, die ihren historischen Zauber bewahrt haben. Dazu gehört auch die im Zentrum verlaufende Karl-Marx-Straße. Ihre historische Bebauung vergleicht man nicht umsonst mit den schönsten Straßen Sankt Petersburgs. Im Zentrum sind viele Kaufmannshäuser erhalten geblieben. Dazu gehört auch der Stammsitz der Kaufmannsfamilie Tarassow. Zu dieser Familie gehört auch Lew Tarassow, der in Frankreich lebte und als Schriftsteller namens Henri Troyat Ruhm erlangte. Die Karl-Marx-Straße liegt in der Nachbarschaft des armenischen Viertels, einem historischen Handelszentrum der Stadt. Wie man unschwer erraten kann, lebten dort Armenier, die 1809 auf Einladung des Zaren Alexander I. in die Stadt kamen, um Handel zu treiben. Am Anfang der Hauptstraße befindet sich der Festungsberg, das sind Überreste der Festungsmauer, die an die militärische Vergangenheit der Stadt erinnern.

Auf eigene Faust

Das architektonische Erbe der Stadt ist gewaltig, wird aber leider nur schlecht gepflegt. Dank der Aktivisten ändert sich die Situation. Im Jahre 2019 geriet der Staw­ropoler Iwan Samochwalow in die Schule für die Koordinatoren des russischen Festivals zur Erhaltung des architektonischen Erbes „Tom Sawyer Fest“. Danach baute er in Stawropol eine regionale Gruppe auf. Das erste Projekt Samochwalows und seiner Freunde war die Verhinderung des Abrisses eines 150 Jahre alten Kaufmannshauses in der Leninstraße. Dank ihrer Bemühungen ist dieses Haus eine der bemerkenswerten Sehenswürdigkeiten der Stadt geworden.

In diesem Jahr konnten die Organisatoren große Aufmerksamkeit auf das „Tom Sawyer Fest“ in Stawropol lenken. Dem Festival schlossen sich nicht nur Volontäre, sondern auch Firmen an. Das half, das Defizit an Baumaterial und Ausrüstung teilweise zu beseitigen. Hände und Hilfe werden jedoch sehr gebraucht. Die Pläne zur Neubebauung der Stadt werden zum Teil auf Kosten der historischen Gebäude umgesetzt.

Die Organisatoren des „Tom Sawyer Festes“ möchten mehr Restaurierungen durchführen, damit die Einwohner ihr Verhältnis zum städtischen Umfeld ändern. Der Pool aus ständigen Volontären besteht aus sieben bis zehn Personen. Das sind nicht nur Enthusiasten, sondern auch Leute mit Erfahrung, Heimatforscher, Historiker und Architekten. So half der Volontär Alexander Sherdjew, Mitarbeiter des örtlichen Museums für darstellende Kunst, die Pläne für den aus Ziegeln bestehenden Teil der Häuser in der Karl-Marx-Straße zu finden, die in diesem Jahr das „Tom Sawyer Fest“ restauriert.

Ein anderes Haus in der Karl-Marx-Straße, das bereits in seiner historischen roten Farbe restauriert wurde (Foto: Tom Sawyer Fest)

Das Erbe durch Marketing

Mit modernen Methoden versuchen Iwan Samochwalow und seine Mitstreiter, die städtischen Aktionen voranzutreiben. So haben sie zusammen mit dem russischen Hersteller von Outdoor-Kleidung der Marke Rebel ein T-Shirt mit historischen Bauten Stawropols herausgebracht. Fast allen abgebildeten Gebäuden droht der Verfall, dem Haus des Generals Sachatzki, der Mühle Gulijews, dem Anwesen des Kaufmanns Wolobujew.

Obwohl das Haus des Generals Sachatzki ein Denkmal der Geschichte und der Kultur von regionaler Bedeutung ist, befindet es sich heute in einem bedauernswerten Zustand. Ende des 20. Jahrhunderts vernichtete ein Brand einen Teil der Fassade, der Innen­einrichtung und des Daches, das als schönstes in Stawropol galt.

Das wie ein gotisches Schloss aussehende Anwesen der Kaufmannsfamilie Wolobujew steht in der Komsomolskaja Straße. Vor fünf Jahren tauchten in den örtlichen Medien Meldungen über den Beginn der Restaurationsarbeiten auf, aber das Gebäude steht immer noch unberührt da. Selbst der Status eines Baudenkmals regionaler Bedeutung rettet es nicht vor dem Verfall.

Die Mühle des Mehlkönigs Gulijewan liegt in den letzten Jahren verlassen und teilweise verfallen da. Heute steht sie inmitten von Neubauten und die städtischen Aktivisten befürchten, dass die Besitzer der neugebauten Wohnungen bald den Abriss des historischen Gebäudes verlangen werden. Um die Aufmerksamkeit auf den Zustand der Mühle zu lenken, machte das „Tom Sawyer Fest“ 2022 ihre Abbildung zu seinem zweiten Logo.

Iwan Samochwalow meint, dass die Mühle erhalten werden kann, indem man sie zu einem Teil eines Parks mit landschaftlichen Ruinen macht. Ähnliche Projekte gibt es schon in Ländern Europas. Man kann der Mühle neues Leben einhauchen, wenn man sie in einen Kunst-Hotspot verwandelt, so wie es jetzt mit ehemaligen Fabrikgebäuden in Moskau und Sankt Petersburg gemacht wird.

Do-it-yourself-Restaurierung


In diesem Jahr hat die Schule der Volontäre das „Tom Sawyer Fest“ in Stawropol organisiert. Neben Stadtbesichtigungen erwartete die Schüler auch eine Masterclass über Restaurationsarbeiten. Sie mussten mit Spachtel und Stemmeisen eine Schicht der Stuckatur am Kaufmannshaus in der Karl-Marx-Straße abnehmen. In der Dokumentation des Hauses steht geschrieben, dass seine Wände nicht gestrichen worden sind, und die Organisatoren des Festivals wollten sein ursprüngliches Aussehen wiederherstellen. Das ist ein sehr starkes Gefühl, wenn man mit eigenen Händen die Geschichte zurückholt.

Jewgenija Wasiljewa

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