Eine Fremdenführerin über das Stalin-Hochhaus und ihr Leben dort

Immer mehr junge Menschen in Russland entscheiden sich für den Beruf eines Fremdenführers. Die sozialen Medien ermöglichen es ihnen, auf sich aufmerksam zu machen. Sweta Frolowa ist eine von ihnen. Sie zeigt Moskau von einer ungewöhnlichen Seite – sowohl im Leben, als auch im Netz. Seit einigen Jahren wohnt sie auch in einem der berühmten Stalin-Hochhäusern.

Fremdenführerin Sweta Frolowa und „ihr“ Hochhaus (Foto: Aus dem Archiw von Sweta Frolowa)

Um Punkt 18 Uhr treffen wir uns mit Sweta, unserer Fremdenführerin, vor dem Hochhaus an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße. Der Ort ist nicht von ungefähr so gewählt: Es soll um das Stalin-Hochhaus, das zu den sogenannten „Sieben Schwestern“ Moskaus gehört, gehen. Noch größeres Interesse erregt die Führung, weil Sweta im historischen Gebäude seit einiger Zeit wohnhaft ist.

Nun geht es los. Warum das Hochhaus genau am Taganski-Hügel, wo wir uns befinden, errichtet wurde, ist laut Sweta der Tatsache geschuldet, dass im 16. Jahrhundert die Vorstellung entstand, Moskau sei das dritte Rom. Dementsprechend sollte es auch auf sieben Hügeln stehen. Das Viertel galt lange Zeit nicht als prestigeträchtig.

Nachdem wir den Hügel hinaufgestiegen sind, erzählt Sweta, was es mit dem Wort „Kotelnitscheskaja“ (dt.„Kesselschmieden“. Anm. d. Red.) auf sich hat. Demnach entstand an diesem Ort im 16. Jahrhundert eine Handwerkssiedlung, in der Töpfer und Kesselschmiede lebten. Daher der Name des Hochhauses.

Das Stalin-Hochhaus an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße (Foto: Aus dem Archiw von Sweta Frolowa)
Das Stalin-Hochhaus an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße (Foto: Aus dem Archiw von Sweta Frolowa)

Besser, höher, imposanter

Wie entstanden die bekannten Moskauer Stalin-Hochhäuser? 1947 hatte Josef Stalin einen Plan für den Bau der ersten sowjetischen „Wolkenkratzer“ vorgelegt, der vom Ministerrat der UdSSR genehmigt wurde. „Sie reisen nach Amerika und kommen dann zurück und staunen: Oh, was für riesige Gebäude! Sie sollten nach Moskau reisen und auch sehen, was für riesige Gebäude wir haben“, zitiert Sweta Stalin.

Für den Bau der Hochhäuser waren verschiedene Ämter zuständig. Im Fall des Hochhauses an der Kotelnitscheskaja war das das Innenministerium. Innerhalb von zehn Jahren erhielt Moskau die sieben Hochhäuser, die im Sozialistischen Klassizismus erbaut wurden.

Häftlinge als Bauarbeiter?

„Vielleicht kennen Sie den Mythos, die Stalin-Hochhäuser seien von Häftlingen gebaut worden“, erinnert uns Sweta. „Tatsächlich ist es kein Mythos – es ist teilweise wahr.“ Dokumente belegen, dass 1948 im Hof des Hauses ein Lager für 2000 Insassen errichtet wurde. Man hatte seine Existenz geheim gehalten und das Lager mit Stacheldraht umzäunt.

Um diesen Fakt zu bestätigen, zeigt Sweta das Foto eines Türrahmens, der bei den Renovierungsarbeiten gefunden wurde. Dort soll ein Häftling die Inschrift hinterlassen haben: „Verurteilt per Dekret zu 10 Jahren Haft. So lebten wir also im Land.“

Drei Gebäude, drei Geschichten

Der Hochhauskomplex ist in drei Gebäude unterteilt. Das „A“ wurde früher als die anderen als separates Wohngebäude errichtet. Nach 10 Jahren wurde es an das restliche Hochhaus angebaut und von außen im ähnlichen Stil fertiggestellt. Die Deckenhöhe beträgt in allen drei Gebäuden etwa 3,15 Meter. Dieser Teil verfügt außerdem über Austritte.

Die Höhe des Hauptgebäudes „Б“ beträgt 176 Meter. Es besteht aus 33 Stockwerken, von denen jedoch nicht alle bewohnt sind. In einigen befinden sich heute Büros. Interessant ist, dass es im zentralen Teil keine Türsprechanlagen gibt, wie es in Russland oft der Fall ist. Im Erdgeschoss sitzen nämlich Concierges, die darauf achten, dass keine Fremden das Gebäude betreten. Diese Menschen sind vor allem die Töchter und Enkelinnen derjenigen, die hier einst eine Wohnung bekommen haben. Im 24. sowie im 27. bis zum 33. Stockwerk befinden sich die technischen Räumlichkeiten. Der 25. und 26. Stockwerk sind Aussichtsplattformen, die heute geschlossen sind.

Gebäude „В“, in dem Sweta wohnt, wurde als letztes gebaut. Nur hier gehen die Fenster des Eingangs auf die Straße hinaus. Ein ungewöhnliches Element sind die sogenannten „schwarzen Treppen“, die die Eingänge miteinander verbinden. Früher dienten sie als Laufwege für Bedienstete.

Nur für Ausgewählte

Die Wohnungen wurden zwischen drei Institutionen aufgeteilt, die die zukünftigen Mieter auswählten: dem Verteidigungsministerium, der Akademie der Wissenschaften und der Kulturakademie. „In meiner Wohnung lebte ein General“, sagt Sweta. Als das Gebäude fertiggestellt wurde, gingen Hunderte von Briefen bei der Landesführung ein, in denen Menschen ihre Verdienste für den Staat schilderten und erklärten, warum sie hier eine Wohnung bekommen sollten.

Zum Abschluss unserer Führung fahren wir mit dem Aufzug in die oberste Etage des dritten Gebäudes und genießen die Aussicht auf Moskau. In einem persönlichen Gespräch verrät Sweta Näheres über ihr Leben im Hochhaus.

Aus eigener Erfahurng

Sweta, wie bist du dazu gekommen, in so einem historischen Gebäude zu wohnen? Hast du dir das gewünscht?

Ich interessiere mich seit meiner Jugend für die Geschichte und Architektur Moskaus und blogge seit meinem 19. Lebensjahr darüber. Schon früh wurde mir klar, dass ich meine Karriere mit dem städtischen Bereich verbinden will.

Ich habe mich jedoch nicht für das Hochhaus entschieden – mein Vater war es, der hier eine Wohnung kaufen wollte. Sein Wunsch war es, dass meine Schwester und ich hier wohnen, in seinem Lieblingsgebäude in Moskau. Er ist konservativ und mag keine modernen Häuser.

Wie fühlst du dich jetzt in einem Gebäude aus der Stalinzeit? Was sind für dich die Vor- und Nachteile?

Vor dem Hochhaus habe ich in einem Gebäude aus der Stalinzeit gewohnt, allerdings in einem einfacheren. Hier fühle ich mich wohler: Ich brauche keine öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, da ich zu Fuß meine Führungsorte erreiche.

Der Nachteil ist, dass es in der Nähe keine Lebensmittelgeschäfte gibt. Man muss 15 Minuten laufen oder den Bus zum nächsten normalen Geschäft nehmen. Außerdem finden unweit unseres Gebäudes Paradeproben statt, was aufgrund der vielen Soldaten, die herumlaufen und die Verbindung blockieren, etwas unpraktisch sein kann. Für mich ist das aber durchaus erträglich.

Kannst du auch von ungewöhnlichen technischen Lösungen im Gebäude und insbesondere in der Wohnung erzählen?

Das Hochhaus wurde als „Stadt in der Stadt“ gebaut und hatte einige Dinge, die in anderen Gebäuden in Moskau Anfang der 1950er Jahre nicht zu finden waren. Zum Beispiel gab es eine überdachte Garage für über 200 Autos. Die Wohnungen wurden zudem mit Fertigausstattung vermietet, es gab Einbauküchen und einen einheitlichen Designstandard in Form von Parkett, Stuck, Ölfarbe an den Wänden und Kleiderbügeln.

Zu den ungewöhnlichen technischen Lösungen gehört der Müllschlucker in jeder Wohnung in der Küche sowie die bereits erwähnte „schwarze Treppe“. Unsere Wohnung ist insofern besonders, als dass hier vieles erhalten geblieben ist. Da mein Vater moderne Dinge nicht mag, haben wir die Originalfenster, das Parkett und einige Türen behalten.

Und gibt es vielleicht etwas, das andere Bewohner in ihren Wohnungen haben – ihr aber nicht?

Einige berichten, sie hätten bei Renovierungsarbeiten Abhörgeräte aus der Sowjetzeit in den Wänden gefunden. Doch in unserer Wohnung haben wir so etwas nicht gesehen. Die Wohnungen wurden von verschiedenen Dienststellen vergeben, daher ist es möglich, dass einige Bewohner tatsächlich abgehört wurden.

Viktoria Nedaschkowskaja

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