Ein Kinderbuch über die Deportation der Russlanddeutschen fällt in Ungnade

Die Erzählung „Der Wermutstannenbaum“ von Olga Kolpakowa über ein sowjetdeutsches Mädchen, das 1941 nach Sibirien verbannt wurde, galt fünf Jahre lang in Russland als eines der besten Werke der zeitgenössischen Kinderliteratur. In diesem Sommer jedoch wurde das Buch in Jekaterinburg als schädlich und die Fakten als verzerrend für Heranwachsende eingestuft.

Die schönen Illustrationen für das Buch sind von Sergej Uchatsch aus Jena / (Foto: KompasGid)

Olga Kolpakowa

Die Schriftstellerin Olga Kolpakowa lebt in Jekaterinburg, Gebietshauptstadt der Oblast Swerdlowsk. Sie stammt aber aus dem Altaigebiet. Dorthin wurden 1941 ihre Vorfahren mütterlicherseits aus dem Kuban, darunter auch ihr Großvater Heinrich Wolf, deportiert. Olga schloss ihr Journalismus-Studium an der Uraler Universität ab. Dann begann sie als Redakteurin einer Kinderzeitschrift zu arbeiten und Bücher für Kinder und Jugendliche zu schreiben. Im Jahre 2017 erschien im Moskauer Verlag KompasGid mit staatlicher Unterstützung ihre Erzählung „Der Wermutstannenbaum“. Die Erinnerungen von Maria Fitz, Olgas Lehrerin, lagen dem Buch zugrunde. Sie war vier Jahre alt, als man sie mit ihren Schwestern und ihrer Mutter in den Zug in Richtung Altai setzte, in dem sich auch der 14-jährige Heinrich Wolf befand.

Das Buch wurde ins Deutsche übersetzt. / (Foto: MaWi-Group)

„Der Wermutstannenbaum“, empfohlen für Kinder ab 12 Jahren, wurde sehr gut angenommen. Die Erzählung kam mehrfach in Ratings der besten Bücher für Heranwachsende. Es wurden positive Besprechungen verfasst. Im Jahre 2019 erhielt Olga Kolpakowa für dieses Buch den Erschow-Kinderliteraturpreis in der Kategorie „Bestes militärpatriotisches Werk für Kinder“.

Iwan Popp

Der Historiker Iwan Popp lebt ebenfalls in Jekaterinburg. Er wurde in einer russlanddeutschen Familie geboren. 2008 beendete er die Staatliche Uraler Pädagogische Universität als Geschichtslehrer und  promovierte drei Jahre später. Iwan Popp arbeitet an seiner Alma Mater und bekleidet den Posten des Prorektors für Erziehungsarbeit und Projekttätigkeit. Er leitet das gesamtrussische patriotische Projekt „Lebendige Geschichte“ und ist im Besitz der Urkunde des Kultusministeriums der Russischen Föderation „Für Erfolge bei der patriotischen Erziehung“.

Iwan Popp gegen Olga Kolpakowa

In diesem Sommer kreuzten sich die Wege dieser zwei Jekaterinburger mit deutschen Wurzeln. Iwan Popp untersuchte Mitte Juni das Buch Olga Kolpakowas „Der Wermuts­tannenbaum“. Er kam dabei zu dem Schluss, dass der Text „auf die Verzerrung historischer Fakten gerichtet ist und diverse Vermutungen und Mythen zulässt“. Das Buch „untergräbt die nationale Sicherheit Russlands“ und behindert den „positiven Erziehungsprozess“. Die Rezension wurde am 21. Juni an die Regierung der Oblast Swerdlowsk geschickt.

So gefiel zum Beispiel Iwan Popp die „liberale europäische Ausrichtung im Vergleich der Oberhäupter der Sowjetunion und des faschistischen Deutschlands“ nicht. Das sah er in dem Satz: „Wie auch Hitler verfügte Stalin über unbegrenzte Macht. Unter seiner Führung nahm man den Bauern das Land, die Werkzeuge, die Tiere, die Häuser und das Getreide weg und siedelte sie um.“ Popp meint, dass „das die Führer und die Geschichte unseres Landes in Misskredit bringt“.

Oder ein anderes Beispiel. Iwan Popp schreibt: „O.W. Kolpakowa versucht in gewisser Weise den Angriff der Faschisten mit folgenden Worten zu rechtfertigen: ¨,Die Erwachsenen besprachen sich still untereinander, dass es, wenn die Faschisten nach Rownopolje kämen, vielleicht nicht so schlimm wäre, denn sie sind ja auch Deutsche. Vielleicht könnte man sich mit ihnen einigen und zusammen leben. Vielleicht hatten Stalin und die Rote Armee nicht recht, als sie allen befahlen, ihre Häuser zu verlassen und wegzufahren?‘“

Der Antrieb der Repressionen

Nach einer solchen Rezension kam das Buch über die Repressionen selbst unter die Räder der Repression. Nach einer geheimen Anordnung der Gebietsregierung hat man angefangen, das Buch aus den Kinderbibliotheken der Region zu entfernen. Diese Nachricht rief eine breite Resonanz hervor. Darüber schrieben verschiedene Medien, von den zentralen Zeitungen bis hin zu Medien „liberaler europäischer Ausrichtung“. Gleichzeitig verkündete die Regierung in Jekaterinburg, dass das Buch nicht aus den Bibliotheken entfernt würde, sondern nur die Altersbegrenzung geändert wird, von 12+ auf 18+. Das bedeutet wahrscheinlich, dass das Buch in den Bibliotheken für Erwachsene zugänglich sein wird. Aber die Autorin und der Verlag KompasGid sind mit der Änderung der Altersbegrenzung nicht einverstanden.

Experten angefragt

„Ich bin, ehrlich gesagt, geschockt. In den letzten Monaten hatte ich das innere Gefühl, dass etwas passieren wird, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie mit der ,Tanne‘ beginnen“, sagte Olga Kolpakowa der MDZ. „Wir haben zusammen mit dem Verlag eine linguistische und literaturwissenschaftliche Expertise beim Institut für russische Literatur bei der Akademie der Wissenschaften in Auftrag gegeben. Ich denke, dass der Prozess der Rehabilitierung des Buches nur langsam voranschreiten wird. Aber der gesunde Menschenverstand wird am Ende siegen.“

„Die gesamte Situation nötigt uns dazu, uns prinzipiell um das Schicksal der ernsthaften, aber noch sehr zerbrechlichen zeitgenössischen Kinderliteratur zu sorgen“, kommentierte Witali Sjusko, der Verlagsdirektor von KompasGid, die Situation. „Die einseitigen Beschuldigungen seitens Iwan Popps stehen im Widerspruch zum Text des Buches und zu der künstlerischen Idee, und sie dienen nicht der Festigung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Nationalitäten und Konfessionen.“

Die MDZ bat den Jekaterinburger Historiker und Erforscher der Repressionen gegen Russlanddeutsche Wiktor Kirillow, eine unabhängige Einschätzung sowohl des Buches  Olga Kolpakowas als auch der Expertise von Iwan Popp zu geben. Wiktor Kirillow stellte fest, dass „die Erzählung sehr gut geschrieben und für die heutigen Heranwachsenden verständlich und sinnvoll ist, sie lehrt sie zu denken und mitzufühlen“. „Und was Herrn Popp angeht … Man darf die Vergangenheit nicht mittels willkürlicher Sammlung historischer Fakten um des ,positiven Erzeihungsprozesses‘ willen rekonstruieren. Das ist eine Zeitbombe“, so Kirillow. „Und ja, es gab antisowjetische Gespräche, das belegen zahlreiche Dokumente. Von unterdrückten Russlanddeutschen kann man schwerlich Achtung vor der Stalinschen Diktatur erwarten.“

Olga Kolpakowa an Iwan Popp

Olga Kolpakowa würde gern mit Iwan Popp über die gemeinsame Geschichte ihrer Vorfahren sprechen. „Wie standen sie zu den Repressionen? Vielleicht sind sie nicht deportiert worden? Im Altai lebten Deutsche, die nicht umgesiedelt wurden“, meint die Schriftstellerin. Andererseits kamen seine Verwandten offensichtlich im Zuge der Mobilisierung für die Arbeitsarmee in den Ural. Die Gedenkbücher, die unter Leitung von Wiktor Kirillow erstellt wurden, zählen über 80 Popps auf, die allein in drei Lagern während des Krieges im Ural arbeiteten – Tscheljablag, Ussollag und Bogoslowlag, aber es gab noch viel mehr solcher Arbeitslager. „Warum ist Iwan Popp so sehr davon überzeugt, dass im Buch die Unwahrheit geschrieben steht?“, fragt Olga Kolpakowa. Aber Iwan Popp meldet sich nicht.

Am 1. August hat die Staatliche Uraler Pädagogische Universität dem regionalen Portal 66. ru geantwortet, dass die Regierung der Oblast Swerdlowsk bereits am 16. Juni eine Expertise bezüglich des „Wermutstannenbaums“ ihr in Auftrag gegeben hat.

Olga Silantjewa


„Welch großes Geschenk“

Margarete Ziegler-Raschdorf, Landesbeauftragte für Heimatvertriebene und Spätaussiedler in Hessen:

„Der Wermutstannenbaum“ ist eine berührende, traurige Geschichte, einfach und ehrlich erzählt von der jungen Russlanddeutschen „Mariechen“, Maria Fitz, heute 83 Jahre alt. Sie erlebte das Schicksal hunderttausender Russlanddeutscher, die ohne ein Recht auf Rückkehr 1941 nach Sibirien deportiert wurden. In ihren Aufzeichnungen schildert sie aus Kindersicht die erlebte schlimme Zeit. Den Kindern mangelte es an allem. Sie hatten weder Essen, Kleidung, Schuhe, noch ein geschütztes Zuhause. Trotzdem hörten sie nicht auf, an das Gute zu glauben. Der Wermutstannenbaum wurde zum Symbol ihrer Kindheit, geschmückt mit Papier und Puppen aus Teig und Fetzen. Er mag struppig und unscheinbar gewesen sein. Trotzdem war es wunderbar, gar zauberhaft und erfüllte Wünsche.

Genau an dem Tag, an dem in Russland das Buch über Maria Fitz als „gefährdende Literatur“ eingestuft wurde, hatte die darauf beruhende Theateraufführung ihre Premiere in Gelnhausen. Jugendliche zwischen 8 und 22 Jahren erarbeiteten sich in einem dreitägigen Theater-Workshop unter Regisseurin und Professorin der University of Florida, Monika Gossmann, die Rollentexte. Zwölf Kinder, darunter Russlanddeutsche, einheimische Deutsche und Russen bringen mit wenigen Requisiten ein Schauspiel auf die Bühne. Es hat die rund einhundert Zuschauer tief bewegt.

Welch großes Geschenk, Maria Fitz, das echte „Mariechen“ aus dem Buch, bei der Premiere persönlich kennenzulernen und zu erleben, dass die Kinder ihre Geschichte wirklich verstanden haben. Gern habe ich für das Theaterprojekt eine Förderung aus dem hessischen Innenministerium vermittelt und bin dankbar für einen wundervollen, lehrreichen Tag.

Maria Fitz und Margarete Ziegler-Raschdorf / (Foto: Soziale Medien)
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