Die Welt mit anderen Augen sehen

In Sergijew Possad, unweit von Moskau, befindet sich bereits seit fast 60 Jahren eine in Russland einzigartige Einrichtung für blinde, taube und stumme Kinder. Sie soll ihnen später ein lebenswertes Dasein in der Gesellschaft zu ermöglichen.

Geborgen: Betreuer und Ärzte kümmern sich liebevoll um ihre Schützlinge. /Foto: Sergijewo-Posadskij detskij do slepogluchich

Durch die großzügig bemessenen und ebenso gestalteten Gänge hallt fröhliches Geplapper und befreites Gelächter junger Menschen. Dabei ist das Leben hier wahrlich kein Kinderspiel. Die weitläufige Anlage ist das Zuhause für gut 200 Mädchen und Jungen zwischen drei und 18 Jahren. Alle haben ihr eigenes Reich. Dort helfen ihnen haptische Elemente aus allen möglichen Materialien, in allen möglichen Formen und gelernten symbolischen Bedeutungen, sich so gut es geht zurechtzufinden. Ein langer, schön dekorierter Gang führt direkt in ein benachbartes Gotteshaus, damit die Kinder nicht im Straßenverkehr gefährdet werden. Die Kirche hat ganz besondere Ikonen – in Form von Reliefs, sodass ihre Kunstfertigkeit und religiöse Bedeutung mit Hand und Fingern ertastet werden können.

Ein Heim – und tausende Betroffene

Und diese weitläufige Musteranlage ist auch das eigentliche Zuhause ihrer unermüdlichen Betreuungs- und Lehrkräfte. Einige von ihnen müssen ja immer um sie herum sein. Denn die Kinder und Jugendlichen können sich in unserer sogenannten „normalen“ Welt alleine kaum oder nur mit ernsthaften Einschränkungen bewegen – die meisten sind von Geburt an blind, viele taub und stumm, einige dazu auch geistig zurückgeblieben. In Sergijew Possad gibt es das einzige Internat in Russland für Kinder mit derart einschneidenden Behinderungen. Dabei ist landesweit eine weitaus größere Anzahl betroffen, über 12.000 besagt eine vorsichtige Schätzung. So nimmt die Warteliste aus allen Teilen des Landes kaum ein Ende. Da ist ein kleiner Junge, blind, taub und folgerichtig eher stumm, aus der Arktis. Von der Mutter früh verlassen, der Vater, ein nomadisierender Rentierzüchter, mit den Behinderungen seines Sohnes überfordert, seine einzigen Spielgenossen waren die Arbeitshunde der Herde. Nach einer Odyssee landete er schließlich in der Obhut des Spezialheimes in Sergijew Possad, sein Seh- und Hörvermögen bessert sich merklich. Er lernt, wie die Brailleschrift zu entziffern ist, andere seiner Schicksalsgenossen wie man sich mit Gebärdensprache verständlich macht. Jedenfalls kommt er mit vorsichtiger Führung seiner Betreuerin ganz munter und strammen Schrittes daher. Und da ist ein kleines blindes Mädchen, das durch ihren geschärften Tastsinn mit Graphitstiften erstaunlich realistische Porträtzeichnungen von Gesichtern aus ihrer Umgebung geradezu kunstfertig aufs Papier bringt.

Kerzenziehen und Studieren

Galina Jepifanowa, die Direktorin, ist seit über 38 Jahren hier daheim, wie Olga Dmitriewa, ihre Stellvertreterin, nur zwei Jahre weniger, schon ihre Mutter hat hier früher gewirkt. Sie führen ein eigens geschultes Pflege- und Ausbildungsteam von mehr als 50 pädagogischen Fachkräften und sechs Fachärzten in medizintechnisch hochmodern eingerichteten Praxen. Stolz führen sie zu einer Art fotografischer Ehrengalerie. Immerhin haben einige ehemalige Zöglinge gar ein Hochschulstudium mit Promotion abgeschlossen. Einer davon – halbblind und taub – unterrichtet an der angesehenen Lomonossow-Universität Psychologie. Im einzigartigen „Sergijewo-Possadskij Detskij Dom Slepogluchich“, als kleines Haus bereits 1962 gegründet und ab Anfang der 1990er in seiner jetzigen Kapazität und beispielhaften Ausstattung aktiv, 2017 erneut renoviert, sind Aufenthalt, Pflege und Ausbildung kostenlos. Zum Schulunterricht in kleinsten Gruppen helfen Werkstätten, beispielsweise zum Malen, Töpfern, Nähen und Kerzenziehen, sich Fertigkeiten anzueignen, die sich im Erwachsenenleben zu eigenständigem Broterwerb ummünzen lassen und eine gewisse Möglichkeit zu gesellschaftlicher Integration schaffen. Eltern, die es sich leisten können, kommen häufig über die Wochenenden, um das Gefühl für eine wirkliche Familienumgebung nicht verebben zu lassen und die möglichen Fortschritte ihrer schicksalsgeschlagenen Sprösslinge mitzuerleben.

Hilfe aus Deutschland

Obwohl die Einrichtung von der öffentlichen Hand getragen wird, wäre ohne finanz- und tatkräftige Unterstützung die hochspezialisierte Heilfürsorge, die so aufwendige wie hingebungsvolle Betreuung und damit schließlich eine gewisse Selbstständigkeit und eine kontinuierliche Aufwertung der Lebensqualität für diese jungen Menschen nicht vorstell- und realisierbar. Andreas Knaul, Lenker der Moskauer Dependance der Anwaltsfirma Rödl & Partner aus Nürnberg, gehört zu den engagierten Stammhelfern: „Schon seit 15 Jahren unterstützen wir gemeinsam mit dem Rotary Club International dieses besondere Kinderheim. Zum Beispiel speziell entwickelte, kostspielige Hörgeräte geben den Kindern die Chance, besser zu kommunizieren, zu lernen und ein selbstbestimmteres Leben zu führen. Besonders freut uns dann, wenn von erfolgreich abgeschlossener Schulausbildung und Immatrikulation an einer Fachhochschule oder Universität berichtet wird, eine zusätzliche Motivation, dieses Projekt noch lange fortzuführen.“ Ein Tag unter diesen Kindern und ihren Betreuern zeigt auf berührende Weise, wie sich selbst mit so gravierenden Behinderungen freud- und hoffnungsvoll leben lässt. Die diesjährige Weihnachts- und damit die Hochzeit fürs Schenken steht vor der Tür. Aber für viele mit ein wenig mehr biblisch geprägtem Mitgefühl ist jetzt auch die Zeit einer aufflammenden, bedingungslosen Nächstenliebe und Zuwendung. Und die können diese bemerkenswerte Einrichtung und ihre so vielfältig bedürftigen Bewohner mehr gebrauchen als so mancher und so manches andere.

Frank Ebbecke

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