0:09
Die russische Staatsanwaltschaft teilt mit, ein Strafverfahren gegen Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin wegen „Bewaffneten Aufstands“ eröffnet zu haben. Ihm drohten demnach 12 bis 20 Jahre Haft.
Tags zuvor hatte Prigoschin in einem Video mit der „militärpolitischen Führung“ Russlands abgerechnet. Die „sogenannte Sonderoperation“ sei nicht aus den offiziell verlautbarten Gründen begonnen worden, so Prigoschin. Von einer „Wahnsinnsaggression der Ukraine, die die Absicht gehabt hätte, uns zusammen mit dem gesamten NATO-Block anzugreifen“, könne keine Rede sein, das Verteidigungsministerium habe mit dieser Behauptung den Präsidenten und die Öffentlichkeit getäuscht. Dort, wo sich nationalistische Freiwilligenverbände und die reguläre Armee der Ukraine auf der einen Seite und Kämpfer der selbsternannten Volksrepubliken im Donbass auf der anderen gegenübergestanden hätten, sei die Lage auch nicht anders gewesen als davor: „Wir haben auf sie geschossen, sie haben auf uns geschossen, so lief das acht lange Jahre. Mal mit höherer, mal mit niedrigerer Intensität. Vor dem 24. Februar 2022 ist nichts Außergewöhnliches vorgefallen.“
Prigoschin lässt in dem 30-minütigen Monolog, den sein Pressedienst als „Interview“ bezeichnet, kein gutes Haar an Verteidigungsminister Sergej Schojgu und seinen Untergebenen. Es ist längst nicht das erste Mal, dass er Schojgu und Generalstabschef Waleri Gerassimow scharf angreift.
Am späten Abend des 23. Juni behauptete die Wagner-Truppe, im Hinterland des Kampfgebiets vom russischen Militär mit Raketen beschossen worden zu sein, es gebe „viele Opfer“. Später meldete sich Prigoschin selbst zu Wort. „Wir sind 25.000 und wir machen uns auf, um zu klären, warum im Land Willkür herrscht.“ Die Verantwortlichen würden „bestraft“. Prigoschin warnte davor, sich der Truppe in den Weg zu stellen. Widerstand werde „unverzüglich zerschlagen“. Es handele sich nicht um einen Putsch, sondern einen „Marsch der Gerechtigkeit“. Das Verteidigungsministerium wies den Vorwurf eines Angriffs auf die Wagner-Gruppe als „unwahr“ und „Provokation“ zurück.
0:22
Der FSB ruft die Wagner-Kämpfer dazu auf, die „verbrecherischen und verräterischen“ Befehle Prigoschins nicht zu befolgen und stattdessen Maßnahmen zu seiner Festnahme zu ergreifen.
1:30
Der „Erste Kanal“ des Staatsfernsehens unterbricht sein Programm für eine Nachrichtensendung. Darin geht es um die von Wagner als angebliche Beweise für den behaupteten Raketenbeschuss präsentierten Videos. Der Sender nennt drei Gründe, warum es sich dabei um Fälschungen handele.
2:13
Prigoschin erklärt, man habe „die Staatsgrenze überschritten“ und nähere sich der Millionenstadt Rostow am Don.
2:15
Auf der Webseite des Verteidigungsministeriums wird eine Videobotschaft von Armeegeneral Sergej Surowikin an das Wagner-Lager veröffentlicht. „Der Gegner wartet nur darauf, dass sich bei uns die innenpolitische Lage zuspitzt. In so einer schweren Zeit für unser Land darf man ihm nicht in die Hände spielen.“ Stattdessen gelte es, sich dem Willen und dem Befehl des gewählten Präsidenten der Russischen Föderation unterzuordnen, so Surowikin.
4:46
Der Gouverneur von Rostow, Wassili Gulubew, wendet sich auf Telegram an die Bevölkerung, sie möge die Ruhe bewahren und nach Möglichkeit das Haus nicht verlassen. „Die Lage erfordert eine maximale Konzentration aller Kräfte zur Aufrechterhaltung der Ordnung.“
5:50
Die Regionalregierung der Oblast Woronesch teilt mit, auf der Autobahn M-4 „Don“, die vom Schwarzen Meer bis nach Moskau führt, sei eine Kolonne mit Militärtechnik unterwegs. Die Bürger der Region sollten die Autobahn meiden.
6:00
Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin schreibt auf seinem Telegram-Kanal, es würden „antiterroristische Maßnahmen“ ergriffen und zusätzliche Kontrollen auf den Straßen durchgeführt.
6:24
In einem Telegram-Kanal von Wagner erscheint ein Video, das Prigoschin im Stab des Südlichen Militärbezirks in Rostow zeigt. Im Gespräch mit dem stellvertretenden russischen Verteidigungsminister Junus-Bek Jewkurow und dem stellvertretenden Leiter des Generalstabs, Wladimir Alexejew, fordert er die Auslieferung von deren unmittelbaren Vorgesetzten, als Schojgu und Gerassimow. „Bis dahin bleiben wir hier, blockieren die Stadt und bewegen uns Richtung Moskau.“
07:30
Prigoschin verkündet die Einnahme des Stabes des Südlichen Militärbezirks. Außerdem seien auch alle anderen militärischen Objekte unter Kontrolle gebracht.
9:14
RIA Nowosti berichtet, dass in Moskau, der Moskauer Region und der Oblast Woronesch der Anti-Terror-Zustand verhängt wurde.
9:40
Aus St. Petersburg werden Hausdurchsuchungen in Prigoschins Büroräumen gemeldet.
9:57
Auf der M-4 haben sich inzwischen lange Staus gebildet. Der Regionalregierung von Woronesch zufolge wurde sie auf mehr als 300 Kilometern Länge – vom 464. bis zum 777. Kilometer – gesperrt.
10:00
Präsident Putin wendet sich mit einer fünfeinhalbminütigen Fernsehansprache ans Volk. Er spricht von einem „Dolchstoß in den Rücken unseres Landes und unsere Volkes“ und stellt Parallelen zum Revolutionsjahr 1917 an. Damals sei Russland um den Sieg im Ersten Weltkrieg gebracht und das Land letztlich in einen tragischen Bürgerkrieg gestürzt worden. Putin sagt, dass diejenigen, die diesen Militäraufstand angezettelt hätten, Verräter seien und dafür zur Rechenschaft gezogen würden. Prigoschin erwähnt er mit keinem Wort.
12:00
Prigoschin antwortet auf Putins TV-Auftritt. Der Präsident irre sich gewaltig. Die Wagner-Kämpfer seien keine Verräter, sondern „Patrioten ihrer Heimat“. Nur wolle man nicht, dass das Land „weiter mit Korruption, Betrug und Bürokratie leben“ müsse.
12:18
Ex-Präsident Dmitri Medwedew ruft in seinem Telegram-Kanal dazu auf, sich um den Präsidenten und Oberbefehlshaber zu scharen. Das sei jetzt das „Wichtigste für den Sieg über den äußeren und inneren Feind, der danach trachtet, unsere Heimat in Stücke zu reißen, für die Rettung unseres Staates“. Spaltung und Verrat, so Medwedew, führten zu einer „unermesslichen Tragödie, einer Katastrophe riesigen Ausmaßes“. Das werde man nicht zulassen.
12:30
Der Chef des Auslandsgeheimdienstes, Sergej Naryschkin, bezeichnet die Revolte als gescheitert. Die Russen hätten „zivilgesellschaftliche Reife und die Fähigkeit, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden“, bewiesen, heißt es auf der Webseite der Russischen Historischen Gesellschaft, die Naryschkin leitet.
14:20
MDZ-Redakteur Tino Künzel bekommt einen Anruf aus der nordrussischen Komi-Republik im Vorland des Ural. „Heute ist der Tag der Jugend, aber bei uns sind alle Veranstaltungen abgesagt.“ Ein solches Veranstaltungsverbot wird auch in einer Reihe anderer Regionen und in Moskau erlassen. Zudem erklärt Moskaus Bürgermeister Sobjanin am Abend den folgenden Montag für arbeitsfrei. Damit sollten „Risiken minimiert“ werden.
16:28
Fahrzeuge der Privatarmee Wagner rollen durch die Region Lipezk, ist aus dem Telegram-Kanal des Gouverneurs von Lipezk, Igor Artamonow, zu erfahren. Die Lipezker Region schließt sich nördlich an die Regionen Rostow am Don und Woronesch an, die Wagner-Angehörige also offenbar unbehindert passieren konnten. Von der Regionalhauptstadt Lipezk bis nach Moskau sind es noch gut 400 Kilometer. Artamonow hatte sich am Vormittag – wie andere Gouverneure auch – demonstrativ hinter Präsident Putin gestellt: „Die Region Lipezk steht an der Seite des Präsidenten! Wir unterstützen voll und ganz jedes Wort und jede Entscheidung des Staatsoberhaupts und Oberbefehlshabers.“ Nun erneuert er seinen Appell an die Einwohner, sie sollten ihre Häuser nicht verlassen und auch jegliche Fahrten mit dem eigenen Fahrzeug oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterlassen.
16:43
Tass verbreitet eine Erklärung der Fast-Food-Kette „Wkusno – i totschka“, des russischen Nachfolgers von McDonald’s, wonach alle Filialen in Rostow am Don bis auf Weiteres geschlossen seien. Begründet wird das mit der Sicherheit der Besucher und des Personals, die „für uns im Vordergrund“ stehe.
19:01
Artamonow informiert, man habe Straßen in der Region Lipezk teilweise mit schwerer Technik aufgraben lassen. Solch „radikale Maßnahmen“ dienten dem Ziel, die „Durchfahrt von Technik“ (sprich der Wagner-Kolonne) zu verhindern. Es gebe jedoch bereits einen Plan zur Reparatur des Straßenbelags. Sobald es die Situation erlaube, rückten die Arbeiter aus.
20:00
Der Pressedienst des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko gibt bekannt, Prigoschin habe ein von Lukaschenko unterbreitetes Angebot angenommen, wonach der Vormarsch auf Moskau gestoppt und die Lage deeskaliert werde. Wörtlich heißt es in der Mitteilung: „Auf dem Tisch liegt ein äußerst vorteilhafter und akzeptabler Modus zur Lösung der Situation, mit Sicherheitsgarantien für die Kämpfer der Privatarmee Wagner.“ Lukaschenko hatte sich in Absprache mit Putin als Vermittler eingeschaltet.
20:24
Prigoschin lässt im Telegram-Kanal seines Pressedienstes wissen, man sei bis auf 200 Kilometer Richtung Moskau vorgerückt. Am Boden sei während dessen kein Blut vergossen worden. Dabei solle es auch bleiben. Die Kolonnen würden nun umkehren und sich zurück in ihre Feldlager begeben. Es ist die erste Wortmeldung Prigoschins nach über fünf Stunden.
22:00
Videos zeigen, wie die Wagner-Truppe aus Rostow abzieht, begleitet von Beifall der Umstehenden. Prigoschin spricht von einem „guten Resultat“, man habe „alle aufgerüttelt“.
22:45
Tass zitiert Kremlsprecher Dmitri Peskow, das Strafverfahren gegen Prigoschin sei eingestellt und „er selbst geht nach Belarus“. Auch die anderen Beteiligten an dem Aufstand bleiben straffrei. Lukaschenko sagt später, man solle aus ihm keinen Helden machen. „Es gibt in dieser Sache keine Helden.“
In den Tagen darauf wird offiziell bestätigt, dass es im Zuge der Revolte auch Tote gegeben hat. In den Medien und den Telegram-Kanälen russischer Militärblogger kursieren verschiedene Zahlen, typischerweise zwischen 10 und 20. Dabei soll es sich ganz überwiegend um Flugzeug- und Hubschrauberbesatzungen handeln. Zumindest die Nachricht vom Absturz eines Aufklärungsflugzeugs vom Typ Iljuschin Il-22, das als Leitzentrale diente, und eines Kampfhubschraubers Kamow Ka-52 findet sich auch in amtlichen Quellen. Die Gouverneure von Iwanowo und Pskow, Stanislaw Woskressenski und Michail Wedernikow, wo die Besatzungen stationiert gewesen waren, gingen damit an die Öffentlichkeit.
Prigoschin hatte die Abschüsse durch die Flugabwehr der Wagner-Gruppierung im Verlaufe des 24. Juni damit gerechtfertigt, seine Truppe sei aus der Luft angegriffen worden. Auch zwei Tage wird er in einer Erklärung bei dieser Darstellung bleiben: Man bedauere, dass man dazu gezwungen gewesen sei, so vorzugehen. Zum Abbruch des „Marsches der Gerechtigkeit“ kurz vor Moskau sagt er: Die Demonstration dessen, wozu man in der Lage sei, habe genügt. Schließlich habe man Protest zum Ausdruck bringen wollen, um einen Machtwechsel sei es nie gegangen, sondern die Verhinderung der Zerschlagung von Wagner. Dieses Anliegen hätten viele Zivilisten entlang der Route Richtung Moskau unterstützt.
Während das Geschehen vielen westlichen Beobachtern als Indiz für Risse im System Putin gilt, schreibt Duma-Chef Wjatscheslaw Wolodin auf Telegram, man gehe gestärkt daraus hervor. „Hätten solche wie Putin 1917 und 1991 an der Spitze des Staates gestanden, dann wäre es nicht zur Revolution und zum Zerfall der Sowjetunion gekommen“, so Wolodin.
Tino Künzel