Die „Sonderoperation“ und ihre Ziele nach einem Jahr

Schutz der Bevölkerung im Donbass, Denazifizierung, Demilitarisierung: Das waren die erklärten Ziele der „Sonderoperation“ in der Ukraine. Russland hält bis heute an ihnen fest. Wie sieht nach einem Jahr die Bilanz aus?

Die „Oma mit der roten Fahne“ wurde in Russland zu einem Symbol der „Sonderoperation“. Die damals 69-jährige Anna Iwanowa aus Charkow in der Ostukraine lief im April 2022 mit einem Sowjetbanner vor die Tür, um vermeintlich russische Soldaten zu begrüßen. Allerdings handelte es sich bei den Uniformierten um Ukrainer, die Lebensmittel verteilten. (Foto: Tino Künzel)

Sie haben es alle schon gesagt, wieder und wieder. „Die Ziele der militärischen Sonderoperation werden erreicht werden“, erklärte Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen mit Soldatenmüttern im Spätherbst 2022, da könne es „überhaupt keinen Zweifel“ geben. In ziemlich der gleichen Art und Weise haben sich in den zurückliegenden Monaten auch Ex-Präsident Dmitri Medwedew, Sicherheitsrats-Chef Nikolai Patruschew, Außenminister Sergej Lawrow und Kremlsprecher Dmitri Peskow geäußert. Aber was sind das eigentlich für Ziele, die Russland ausgegeben hat, und wie nahe ist man ihnen nach einem Jahr gekommen?

„Denazifizierung“ der Ukraine

Am 24. Februar hatte Putin in einer Fernsehansprache gesagt, er habe sich zu einer „militärischen Sonderoperation“ entschlossen. Ihr Ziel sei der „Schutz der Menschen, die acht Jahre lang Spielball des Kiewer Regimes waren, einen Genozid erleiden mussten“. Deshalb werde nun eine „Denazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine angestrebt. Russland plane keine Okkupation ukrainischer Territorien. „Wir haben nicht vor, jemandem etwas aufzuzwingen.“

Den wohl größten Widerhall in der eigenen Bevölkerung dürfte die Behauptung erfahren haben, die Ukraine müsse vom Neonazismus befreit werden. Für viele scheint allein das schon die „Sonderoperation“ moralisch zu legitimieren. Man sieht sich nur zu gern in der Tradition der „Dedy“, die unter immensen Verlusten die Faschisten besiegt haben. Oft ist zu hören, Russland kämpfe heute einen neuen Großen Vaterländischen Krieg.

Aber worin soll eigentlich der Neonazismus in der Ukraine bestehen? Außenminister Lawrow zählte in einer Rede am 25. Februar auf: „ständige Fackelmärsche, eine ständige Lobpreisung von Nazis, eine Kultivierung nazistischer Sitten in den sogenannten Freiwilligenbataillonen“. Russen und Ukrainer hätten „zu sehr unter dem Nazismus gelitten“, um davor die Augen zu verschließen.

Das Argument der acht Jahre

Wie man sich im Kreml eine „Denazifizierung“ vorgestellt hat und was passieren müsste, um dieses Ziel als erreicht anzusehen, diese Frage ist bis heute unbeantwortet geblieben. Es versteht sich allerdings von selbst, dass dafür erst einmal die Machtverhältnisse in der Ukraine zu Ungunsten des „Kiewer Regimes“ geändert werden müssten. Wie es um den politischen Einfluss Russlands im Nachbarland heute bestellt ist, lässt sich denken und auch am Zwischenstand der „Demilitarisierung“ ablesen.

Neue Helden hat das Land: Leuchttafel an einer Moskauer Bushaltestelle. (Foto: Tino Künzel)

Der Schutz der Zivilbevölkerung im Donbass als vorrangig deklariertes Ziel der „Sonderoperation“ ist wiederum ein Motiv, mit dem sich zu Hause gut Mehrheiten generieren lassen. „Wo wart ihr denn die letzten acht Jahre?“, mussten sich selbst im Familien- und Freundeskreis viele anhören, für die es ein Unding war, dass Russland Truppen in Marsch setzte. Soll heißen: Als der Donbass von der ukrainischen Armee beschossen wurde, habt ihr nichts gesagt, und jetzt, wo unsere Armee endlich den Leuten dort zu Hilfe kommt, da wollt ihr, dass das Schießen aufhört, ihr Heuchler.

UN: 2021 im Donbass-Konflikt 25 Tote

Das entspricht dem Narrativ, das tagtäglich im Staatsfernsehen reproduziert wird. Dass nämlich nach einem Staatsstreich 2014 in Kiew die Menschen in der Ost­ukraine mit ihren starken Bindungen zur russischen Sprache und russischen Kultur um ihre Identität fürchten mussten. Dass sie mit dem Westkurs der neuen Machthaber, mit ihrer Nationalitäten- und Sprachpolitik nicht einverstanden waren und Widerstand geleistet haben. Aber Kiew sei zu keinem Dialog bereit gewesen und habe stattdessen mit Waffengewalt geantwortet. So sei das acht Jahre gegangen, dann habe man in Moskau einfach nicht mehr mitansehen können, was für ein Vernichtungsfeldzug „auf unserem historischem Gebiet“ im Gange ist, wie Präsident Putin zu sagen pflegt.

Erst kürzlich, bei einem Auftritt vor Vertretern der Luftfahrtindustrie, bekräftigte er diese Sicht der Dinge. „Nicht wir haben die Kampfhandlungen angefangen, wir versuchen sie zu beenden“, so Putin. „Begonnen haben damit die Nationalisten in der Ukraine und ihre Helfershelfer von 2014, als dort ein Staatsstreich verübt wurde. Hätten wir uns das immer weiter gefallen lassen sollen?“

Nach UN-Angaben kamen im Donbass von 2014 bis 2021 auf beiden Seiten etwa 14.000 Menschen ums Leben, darunter 3400 Zivilisten. Die allermeisten Opfer entfielen auf die Jahre 2014 und 2015 mit ihren offenen Kriegshandlungen. Im Jahr 2021, also unmittelbar vor Verkündung der „Sonderoperation“, waren laut UN-Beobachtermission die wenigsten zivilen Opfer seit Beginn des Konflikts zu beklagen, nämlich 25 Tote und 85 Verletzte. Eine Dringlichkeit des Eingreifens erschließt sich aus diesen Zahlen nicht.

„Wahrheit ist das Wichtigste“

Können sich die Menschen im Donbass heute sicherer fühlen als vor einem Jahr? Glaubt man der veröffentlichten Meinung, dann hat eine klare Mehrheit der Einwohner in den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk das militärische Vorgehen Russlands begrüßt. Doch Schutz fand ein Großteil nicht in der eigenen Heimat, sondern in der Ferne. Nach Angaben des russischen Katastrophenschutzes flüchteten in den ersten acht Monaten nach dem 24. Februar „4,79 Millionen Menschen aus dem Donbass und der Ukraine“ nach Russland. Die Zahl der Flüchtlinge in Richtung Westeuropa beläuft sich aktuell laut den Vereinten Nationen auf über acht Millionen.

Wie viele Menschen in dieser Zeit ihr Leben verloren haben, ist ungewiss. Die Kampfhandlungen gehen derweil mit unverminderter Härte weiter. Russland habe dabei die „Wahrheit“ auf seiner Seite, meinte Wladimir Putin neulich bei den Gedenkfeiern zum 80. Jahrestag der deutschen Kapitulation in Stalingrad. „Das Wichtigste bei der Berichterstattung über die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs wie auch der Sonder­operation sind Wahrheit und Wahrhaftigkeit“, sagte er. Das sei „unsere wichtigste Waffe“.

Tino Künzel

Die Welt sieht jetzt schon anders aus

In den russischen Buchläden sind erste Wandkarten eingetroffen, auf denen die Grenzen zwischen Russland und die Ukraine neu gezogen sind. Wie die Zeitung RBK schreibt, haben die Fachverlage den Grenzverlauf entsprechend den geltenden russischen Gesetzen angepasst. Die besagen, dass vier bis dato ukrainische Regionen seit 4. Oktober 2022 zu Russland gehören. DNR und LNR, die Provinzen Saporoschje und Cherson  – nicht mehr Ost­ukraine, sondern Südwestrussland.

Russische Landkarte mit einer Rumpf-Ukraine (Foto: Atlas-print)

Dass Russland die genannten Regionen nur teilweise kontrolliert, war da auch kein Hinderungsgrund. Und damit keiner auf die Idee kommt, das könne man auch anders sehen, wird in der Staatsduma über Strafen von bis zu einer Million Rubel für kartografische Verletzungen der „territorialen Integrität“ diskutiert. In erster Lesung wurde das Gesetz gebilligt.

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: