„Lasst es uns ihnen zeigen“
Am Abend des 19. Juli wurde das Gebäude der US-Botschaft in Moskau mit der russischen Trikolore „geschmückt“. Die riesige Projektion an der Fassade diente als Kulisse für ein Konzert des Sängers Shaman (gebürtiger Name Jaroslaw Dronow), der damit, wie er sagte, gegen die Sperrung seines Kanals auf der US-Videoplattform YouTube protestieren wollte. Das Konzert sollte eigentlich improvisiert werden. Der Sänger kündigte die Aktion vor der US-Botschaft auf dem Platz der Donezker Volksrepublik (wie das bisher unbenannte Stück des Nowinskij-Boulevards seit dem 22. Juni 2022 heißt) „unerwartet“ am Nachmittag desselben Tages an. Shaman nahm das Video für Telegram auf, während er mit der russischen Flagge vor den Kreml-Mauern stand. „Wie ihr wisst, haben die Amerikaner kürzlich meinen YouTube-Kanal gesperrt, nur weil ich Russe bin! Und heute Abend bin ich bereit, ihnen darauf zu antworten“, erklärte er. „Lasst es uns ihnen zeigen. Glaubt mir, der Sieg wartet bald auf uns alle“, appellierte er an seine Abonnenten.
Gut vorbereitete Improvisation
Für die Improvisation war alles ziemlich gut organisiert. Die Bühne wurde in ein paar Stunden aufgebaut. Der Nowinskij-Boulevard wurde abgesperrt, Metalldetektoren wurden aufgestellt, der Bereich vor der Bühne wurde eingezäunt, und traditionsgemäß gab es keinen Mangel an Polizisten und Gefangenentransportern. Auch die Menschen kamen ausreichend zusammen. In den Händen vieler befanden sich rot-blau-weiße Fähnchen und Fotos des Idols. Wie es sich für ein Idol gehört, ließ Shaman seine Fans anderthalb Stunden warten, aber er hielt sein Versprechen ein. Der Musiker kam in einem legendären Auto „Pobeda“ („der Sieg“) mit der roten Aufschrift „Pobeda!“ zu der Veranstaltung. Am Ende des Auftritts brach er den Applaus ab, indem er seinen größten Hit „Ich bin Russe“ sang (der Refrain lautet: „Ich bin Russe, ich habe Glück. Ich bin Russe, der Welt zum Trotz.“). Er trank auch einen Schluck mit den Versammelten, oder wie er sagte, „stieß auf unseren Sieg an“. Aus einer großen Champagnerflasche schüttete er, wie ein Formel-1-Fahrer nach einem Sieg, Schaum ins Publikum.
Kleine Geografiestunde
In den westlichen Medien wird Shaman als „Kreml-Projekt“ und „Putins Popstar“ bezeichnet. Anfang des Jahres veröffentlichte das Magazin „Stern“ einen Artikel mit dem Titel „Pro-Putin-Künstler Shaman: Der Sänger mit dem Atomknopf auf der Bühne“. Der Autor schreibt, dass „der Sänger des Russen-Hits aus einer Kleinstadt im Moskauer Umland stammt“. Wahrscheinlich wurde der Autor durch den Namen der Stadt, in der der Sänger geboren wurde – Nowomoskowsk – in die Irre geführt. Er klingt wie Nowaja Moskwa („Neues Moskau“, ein Teil des Moskauer Gebiets, das 2012 an Moskau angegliedert wurde). Aber die Stadt Nowomoskowsk liegt in der Region Tula, und die Entfernung von der russischen Hauptstadt dorthin ist etwa so groß wie die von Berlin bis Hamburg.
Reine Nervensache
Vom jungen Sänger, der in seiner Heimatstadt mit 15 Jahren in Restaurants sang, hörte man erstmals 2013, als er bei der Show „Factor A“ (der russischen Version von „The X Factor“) den zweiten Platz belegte. Alla Pugatschewa, die Primadonna der sowjetischen und der russischen Popmusik, bezeichnete damals Shaman als „die Verkörperung einer neuen Generation von Stars“. Gleichzeitig wies sie darauf hin, dass Jaroslaw sich noch lange würde behaupten müssen. Wie der Sänger später erklärte, hat die Bemerkung einen Nerv bei ihm getroffen.
Es dauerte neun Jahre, bis er sich behaupten konnte. Am 23. Februar 2022 stellte der Künstler die Single „Erheben wir uns“ auf YouTube. Das Lied ist dem Gedenken an die Helden des Großen Vaterländischen Krieges gewidmet. Am nächsten Tag begann die „militärische Sonderoperation“ in der Ukraine. Am 26. Juni 2022 zeigte Dmitrij Kiselew diese Komposition in der Nachrichtensendung „Vesti Nedeli“. Der Fernsehmoderator, der als Hauptpropagandist des Kremls im Westen gilt, erinnerte sich daran, „stolz auf Russlands nächste Mission zur Entnazifizierung Europas zu sein“ und bezeichnete die Aufführung des Shaman-Liedes als ergreifend. Später nannte Shaman Kiselews Entscheidung ein großes Glück. Schließlich wurde er über Nacht berühmt. Und es begann eine endlose Reihe von Konzerten bei offiziellen Veranstaltungen, Tourneen durch das Land und Fernsehauftritten. Bei den Präsidentschaftswahlen 2024 wurde Shaman zu Putins Vertrautem. Am 22. Juli verlieh Putin dem Sänger den Titel „Verdienter Künstler Russlands“.
Nachdem er seine Fans mit Champagner überschüttet hatte, kündigte Shaman ein neues Konzert auf dem Roten Platz am Tag der russischen Nationalflagge am 22. August an. Natürlich wird es „Pobeda!“ heißen. The show must go on.
Alexej Karelski