„Die Schuld meiner Generation“

Sergej Kossjakow war unser Kollege bei der MDZ. Aus dem sibirischen Tomsk kam er nach Moskau, blieb ein paar Jahre und zog 2012 nach Bonn weiter. Dort arbeitet der Journalist inzwischen als Zollbroker für ein weltweit tätiges Unternehmen. Wie er im Lichte der jüngsten Ereignisse von Deutschland aus auf Russland blickt, erzählt er hier.

Zehntausende Menschen versammelten sich am 22. August 1991 vor dem „Weißen Haus“ in Moskau, um gemeinsam mit dem russischen Präsidenten Boris Jelzin die Niederschlagung des Putsches reaktionärer Kräfte zu feiern. (Foto: pastvu.com)

Ich bin 45 Jahre alt. Meine Kindheit fiel noch in die Sowjetzeit, meine Jugend in die 1990er Jahre. Als 1991 der Augustputsch scheiterte, weil in Moskau und in geringerem Maße auch in St. Petersburg die Menschen dagegen auf die Straße gegangen sind, hat man das im großen Rest des Landes am Bildschirm verfolgt. Ich war damals 15 – und mächtig stolz auf unsere Leute.

Heute fühle ich die Schuld meiner Generation an dem, was wir gerade erleben. Wir haben nichts getan, um die Demokratie stärker zu verankern. In den Neunzigern war sich jeder selbst der Nächste, niemand wollte für irgend­etwas Verantwortung übernehmen. Diese allgemeine Gleichgültigkeit hat meine Generation geprägt. Nur wenige sind je für ihre Rechte demonstrieren gegangen. So haben wir die Freiheit, die wir vor drei Jahrzehnten geschenkt bekommen haben, wieder hergeschenkt.

Wir konnten auch der Genera­tion unserer Eltern nichts entgegensetzen. Unsere Mütter und Väter, die sich gern an die Sowjetunion zurückerinnern, hatten zum Beispiel ihren 1. Mai. Da liefen alle mit, das war ein freudiges Ereignis und verband. Ich kenne das ja selbst noch, damit bin ich aufgewachsen.

Ein solcher Zusammenhalt fehlt uns. Wir waren vor allem damit beschäftigt, unser Privatleben in geregelte Bahnen zu lenken. Einerseits kann man das ja verstehen, andererseits ist diese Passivität furchtbar. Ich glaube, dass die nachfolgende Generation uns das nicht verzeiht. Sie hat die Früchte der Freiheit zumindest schon kennengelernt und ich kann nur hoffen, dass sie es besser macht und eine andere Gesellschaft aufbaut.

Sergej Kossjakow bei einer Bootsfahrt auf dem Rhein: Ob er da gerade wieder in seiner Muttersprache telefoniert? (Foto: Privat)

Ich bereue kein bisschen, dass ich vor zehn Jahren nach Deutschland gezogen bin. Erst hat mich die neue Arbeit gereizt, die neue Kultur. Aber inzwischen kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, nach Russland zurückzukehren, zumal nach den Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit. Ich bin Deutschland sehr dankbar, auch wenn ich vieles an der Politik nicht verstehen kann. Mir gefällt der soziale Charakter der Gesellschaft. Das „Leben und leben lassen“. Man begegnet sich mit Respekt. Und es gibt nicht diesen Kult der Stärke wie in Russland, wo der Stärkere recht hat. Ich war immer ein Nonkonformist, einer, der nicht mit allem einverstanden war, der Zweifel hatte. Aber mit der Zeit habe ich verstanden, dass ich kein Rebell bin. Ich finde es gut, wenn Gesetze eingehalten werden. Und wenn sie für alle gelten.

Was mir noch am Herzen liegt: Es hat Berichte gegeben, wonach auf Russen in Deutschland wegen der aktuellen Situation mit dem Finger gezeigt wird und man mit uns nichts zu tun haben will. Mir ist so etwas, das möchte ich betonen, kein einziges Mal passiert. Im Gegenteil: Gerade in den ersten Tagen der „Sonderoperation“ haben sich die Deutschen ständig bei mir erkundigt, wie es mir geht, haben mich zu unterstützen versucht und sich entschuldigt, weil sie so viele Fragen hatten. Es fielen Sätze wie „Meine Tür steht dir immer offen“ und „Geh bloß nicht weg“. Das hat mich sehr berührt.

Es stimmt auch nicht, dass man neuerdings nur noch im Flüsterton Russisch sprechen kann, weil man sonst schief angeguckt wird. Ich telefoniere oft auf Russisch – im Café, auf der Straße. Daran hat noch nie jemand Anstoß genommen. 

Ja, ich habe selbst davon gehört, dass zum Beispiel die Nachbarn einer Kollegin nicht mehr mit ihr reden oder der Sohn einer Bekannten in der Schule von anderen Kindern beleidigt wird. Aber da spielen immer auch die konkreten Umstände eine Rolle. Und letztlich ist die Frage doch, wie typisch solche Fälle sind. Für Deutschland sind sie nicht typisch.

Aufgeschrieben von Tino Künzel.

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