Die offene Wunde: Estland und seine russische Minderheit

Hundert Jahre nach dem Frieden von Tartu nehmen die Streitereien zwischen Russland und seinem westlichen Nachbarn wieder zu. In dessen Land leben Esten und die russische Minderheit aneinander vorbei. Perspektiven aus einer in vielerlei Hinsicht geteilten Gesellschaft.

Unruhiges Gewässer: Der Fluss Narva trennt die gleichnamige Stadt Estlands vom russischen Iwangorod. (Foto: Wikicommons)

Bevor das kleine Estland vom großen Russland als eigener Staat anerkannt wurde, musste es in den Kampf ziehen. Am Ende seines Freiheitskriegs stand der 5. Februar 1920 und mit ihm das Abkommen von Tartu. Zum diesjährigen Jubiläum ist von dem Frieden nicht viel übrig geblieben. Ganz im Gegenteil: Er sorgt für Streit.

„Geschichtsverfälschung“ ließ es der estnische Außenminister Urmas Reinsalu kürzlich in Richtung des russischen Nachbarn schallen. Moskau habe Teile Estlands annektiert. Wenn Russland dies nicht anerkenne, leiste es der „Gewaltpolitik totalitärer Regime“ Vorschub. Reinsalu und andere Vertreter der estnischen Regierung fordern Gebiete zurück, die ihrem Land 1920 durch die russische Sowjetrepublik zugesprochen wurden. Es geht um Teile der Region Pskow sowie des Leningrader Oblast. Solange das Territorium nicht zu Estland zurückkehrt, will Tallinn die Ratifizierung eines 2014 unterzeichneten Grenzvertrages verweigern. Bis heute gibt es keine offiziell festgesetzte Demarkationslinie zwischen beiden Ländern.

Russland weist Vorwürfe von sich

Während des Zweiten Weltkriegs hatte man das junge Estland von allen Seiten her überrannt. Schließlich wurde das Land zu einem Teil der UdSSR. Als sich die Sowjetunion 1991 auflöst, erlangen die Esten ihre Unabhängigkeit zurück – allerdings ohne die heute so umstrittenen Gebiete. Glaubt man Maria Sacharowa, so wird sich daran auch künftig nichts ändern. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums argumentiert, dass Estland der UdSSR freiwillig beigetreten sei. So habe es die Gültigkeit des Abkommens von Tartu aufgehoben.

Der sowjetische Einfluss prägt den baltischen Nachbarn bis heute. Als Folge von Russifizierungsprogrammen stellen ethnische Russen die dominante Mehrheit im Osten des Landes. Erhebungen aus dem Jahre 2017 zeigen dort einen Bevölkerungsanteil von gut 90 Prozent. In ganz Estland beläuft sich die Zahl auf 25 Prozent.

Die Anerkennung würde viel bedeuten

Auch in der Hauptstadt Tallinn gibt es ganze Stadtteile, die fast ausschließlich von Russen bewohnt werden. Das estnische Landeszentrum ist die Heimat von Tambet Muide. Der 29-Jährige studiert in Tallinn Geschichte, absolviert gerade aber ein Auslandssemester im ungarischen Budapest. Seinem Englisch ist deutlich anzumerken, dass es in letzter Zeit besonders häufig zum Einsatz gekommen ist. Der Student geht souverän mit der Fremdsprache um, spricht sie lediglich mit leichtem Akzent. Wird Tambet nach dem Frieden von Tartu gefragt, reagiert er etwas unsicher: „Das Abkommen ist natürlich schon wichtig, weil es eine Basis für die estnische Unabhängigkeit bildet.“ Was traditionelle Feierlichkeiten angehe, liege der 24. Februar 1918, die erstmalige Ausrufung der eigenen Republik, trotzdem vor dem 5. Februar 1920. „Ich bin aber niemand, der auf Paraden und dergleichen geht“, distanziert er sich.

Die Gebietsforderungen der Politiker sind dem Esten bekannt. Er hat den Eindruck, dass die Positionen in seiner Heimat bei einigen Anklang finden. „Ich denke, aus rechtlicher Sicht ist da schon was dran, dass die Gebiete eigentlich ein Teil Estlands sein sollten. Schließlich haben wir es heute ja nicht mit einer neuen, zweiten Republik zu tun“, überlegt Tambet. Sein eigener Urgroßvater stammte aus der Gegend um Narva. Die Stadt grenzt an das russische Iwangorod, das nach dem Frieden von Tartu Estland mitunter zugesprochen wurde. Der Student weiß aber auch, dass sich vieles verändert hat: „Früher war es estnisch, aber in den nordöstlichen Städten Estlands wird heute hauptsächlich Russisch gesprochen.“ Das Bestreben der Regierung unterstützt er deshalb nicht. „Da gibt es aus ökonomischer und sozialer Sicht nicht viel zu holen“, meint er mit Blick auf die verlorenen Gebiete. „Auch wenn es für Estland sehr wichtig wäre, dass Russland die Existenz des Abkommens anerkennt.“

Ein russisches Paralleluniversum

Zuhause in Tallinn kam Tambet bisher kaum mit der Minderheit in Kontakt, hat dort so gut wie keine russischen Freunde. „Man trifft sich vielleicht mal auf der Straße. Oft wird man auf Russisch angesprochen …“ – er hält inne – „… aber natürlich auch nicht immer. Ich kann das nicht verallgemeinern.“ Tambet ist darum bemüht, seine Worte mit Bedacht zu wählen. Kleinreden will er die Probleme aber auch nicht: „Es gibt schon eine hohe Anzahl an Leuten in der russischen Minderheit, die einfach isoliert sind. Ganz besonders die ältere Generation, die in ihrem Leben höchstwahrscheinlich kein Estnisch mehr lernen wird.“ Er habe auch von einem Geschichtslehrer gehört, der seine Schüler mit einem Lehrbuch aus Russland unterrichtet. Nun versuche man, die russischen Schulen im Land zu estnisieren.

An der Universität in Budapest hat Tambet inzwischen einige Russen kennengelernt. „Es gibt einen großen Unterschied, ob wir über die Beziehung von Esten und Russen sprechen oder über die Beziehung zwischen Estland und Russland“, fasst er am Ende zusammen. „Die Russen, egal ob in Russland oder in Estland, sind nette Leute. Der russische Staat, das ist etwas, wo man als Este Vorsicht walten lässt. Das wird uns tatsächlich auch schon zur Schulzeit beigebracht.“

Sprachverbot und zugeklebter Mund

Auch Linda Bhullar hat wie Tambet ihre Kindheit und Jugend in Estland verbracht – allerdings als Teil der russischen Minderheit. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Dresden und macht eine Ausbildung zur Hotelkauffrau. Dass die 24-Jährige nach Deutschland ausgewandert ist, hängt auch mit der Situation in ihrem Heimatland zusammen. Wenn sie erzählt, merkt man, dass sie das Thema beschäftigt. „Ich habe fünf Jahre lang einen russischen Kindergarten besucht“, erinnert sich Linda. „Dann hat meine Mutter gesagt, dass es gut für mich wäre, Estnisch zu können.“ Die Tochter wurde in einen estnischen Kindergarten geschickt. Linda lebte damals mit ihrer Familie im nordöstlichen Sillamäe. Die Stadt am finnischen Meerbusen gilt als eine Perle. Sie liegt genauso weit von Tallinn wie von St. Petersburg entfernt. Die Russen sind hier in deutlicher Überzahl.

Bald folgte der Schritt auf eine estnische Schule. „Es war nicht einfach, was die Hausaufgaben anging“, beklagt Linda. „Zuhause konnte mir keiner helfen.“ An der Schule habe ein strenges Russisch-Verbot geherrscht. „Ich bin damit ganz gut klargekommen, mein Bruder aber nicht. Ihm wurde sogar einmal der Mund zugeklebt“, berichtet Linda kopfschüttelnd. Nach dem Zwischenfall ging es für ihn zurück auf eine russische Schule.

Lieber miteinander statt gegeneinander

Seine Schwester hat durchgehalten. „Ich bin da schon eine Kämpferin“, verkündet sie stolz mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Von Sillamäe aus ging es für sie weiter nach Narva und dann schließlich nach Tallinn. Hier macht das Mädchen, das mittlerweile fließend Estnisch sprechen kann, ihr Abitur: „Blöderweise war ich die einzige bekennende Russin dort an der Schule. Es kam öfter vor, dass Klassenkameraden zu mir kamen und mich fragten, was ich überhaupt in Estland wolle.“ Vor allem die gemeinsame Geschichte um den Zweiten Weltkrieg habe als Aufhänger für die Anfeindungen gedient, so Linda. Gleichzeitig wusste sie von anderen russischen Esten, die ihre Wurzeln lieber verschwiegen. Dieser Logik erlag irgendwann auch Lindas Mutter: „Als ich fünfzehn war, wollte sie einmal meinen alten russischen Nachnamen, also ‚Tjuljukowa‘, ändern, damit ich keine Schwierigkeiten bekommen würde, einen Job zu finden.“

Linda versteht, dass das kleine Volk der Esten seine Kultur beschützen will und gibt zu, dass sich viele Russen abkapseln. Der momentane Weg sei aber der falsche: „Man könnte den Leuten Sprachkurse anbieten, estnische Nachhilfe für russischsprachige Kinder einrichten.“ Einen Unterschied zwischen Städten wie Iwangorod und dem Rest Russlands kann sie nicht erkennen. Der politische Streit um die Grenzgebiete geht für sie am Thema vorbei: „Die ganze Situation hindert uns einfach daran, als eine Gemeinschaft gut zusammenzuleben. Sonst wäre es wirklich ein tolles Land.“

Patrick Volknant

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