Die Kirche und das Volk

Kirchenpatriarch Kirill hat mit einer Definition des Begriffs „russische Menschen“ aufhorchen lassen. Sich so bezeichnen zu können, erfordere einen tiefen orthodoxen Glauben und den Gang in die Kirche, sagte er unlängst. Aber auf wie viele Russen trifft das überhaupt zu?

Patriarch Kirill sitzt oft in der ersten Reihe. (Foto: Kremlin.ru)

Die Russen sind – ja wie eigentlich? Es gibt keine Standards für die Zugehörigkeit zu einem Volk. Jeder kann die Frage je nach seinen Beobachtungen, Erfahrungen oder Vorstellungen anders beantworten. Auch das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche hat das jetzt getan. Anfang November nannte Patriarch Kirill bei einer Predigt in Moskau gewisse Merkmale, woran man Russen – im ethnischen, nicht im staatsbürgerlichen Sinne – seiner Meinung nach erkennt.

„Stellt euch die Frage“

Der Pressedienst des Patriarchen zitiert den Passus wie folgt: „Es ist sehr wichtig, meine Lieben, dass das Verständnis von der Zugehörigkeit zum russischen Volk heute einhergeht mit einem tiefen orthodoxen Glauben. Und wenn nun manche sagen ,Wir sind Russen‘, aber nicht in die Kirche gehen? Stellt euch die Frage: Seid ihr Nachkommen eurer Väter, Großväter, Großmütter, Urgroßväter und Urväter, die mit dem Glauben ihr gesamtes Leben verbunden haben? Und wenn ihr nicht deren Nachkommen seid, inwiefern könnt ihr dann von euch als von russischen Menschen sprechen?“

Die Äußerung schlug in Russland hohe Wellen. Dass der Patriarch sich und andere über den Glauben definiert, ist zunächst nicht überraschend. Doch wenn nur tiefgläubige Orthodoxe die Bezeichnung Russe verdienen, was ist dann mit allen anderen? Die Kommentarspalten der Online-Medien füllten sich bei diesem Thema wie von selbst. „Was waren das denn dann für Menschen, die in der Sowjet­union gelebt haben?“, fragt ein User auf der Seite der Internetzeitung Fontanka.ru. Ein anderer schreibt: „Jetzt habe ich es also schriftlich, dass ich kein russischer Mensch bin.“

„Was tun mit Andersgläubigen und Atheisten?“

Im Telegram-Kanal der Zeitung „Nowyje Iswestija“ heißt es: „Das wirft eine der wichtigsten Fragen überhaupt auf: Was tun mit Andersgläubigen und Atheisten? Aus dem Land jagen oder zwecks Übertritt zur Orthodoxie zwangstaufen?“

Doch wie ist es in Russland überhaupt um das Verhältnis zur Reli­gion bestellt, an dem sich für Kirill ablesen lässt, ob jemand Russe ist oder nicht? Nach offiziellen Angaben machen ethnische Russen etwa 72 Prozent der russischen Bevölkerung aus. Bei einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM vom Sommer bezeichneten sich aber nur 57 Prozent der Befragten als orthodox. 19 Prozent gaben an, nicht gläubig zu sein. In der jüngsten Referenzgruppe der 18- bis 24-Jährigen sind es sogar 42 Prozent.

Religion nur für eine Minderheit wichtig

Auf die Frage, welche Rolle Religion in ihrem Leben spielt, antworteten 40 Prozent mit „eine sehr wichtige“ oder „eine relativ wichtige“. Mit 57 Prozent erheblich höher ist der Anteil derjenigen, für die Religion unwichtig oder nicht sonderlich wichtig ist. Als Vergleichswert gibt WZIOM das Jahr 1993 an. Demnach hat Religion in den vergangenen 30 Jahren an Bedeutung gewonnen, allerdings durchaus moderat: 1993 lag das Verhältnis wichtig-unwichtig bei 28 zu 61 Prozent.

Dazu passt, dass laut Umfrage nur 15 Prozent der Befragten regelmäßig – „mindestens einmal im Monat“ – in die Kirche gehen (bei den erklärten Orthodoxen 22 Prozent). 31 Prozent tun das überhaupt nie und weitere 51 Prozent nur „von Zeit zu Zeit“.

Wenig regelmäßige Kirchgänger

Eine erst kürzlich veröffentlichte Erhebung hatte für den Kirchenbesuch eher noch bescheidenere Werte ermittelt. Das von der Higher School of Economics einmal im Jahr vorgelegte „Monitoring der ökonomischen Lage und Gesundheit“ zu den Lebensverhältnissen im Land kommt zu dem Schluss, dass sich im Jahr 2022 zwar 82 Prozent der Erwachsenen in Russland als orthodoxe Christen auswiesen, doch nur die allerwenigsten ihren Glauben auch praktizieren. 1,4 Prozent davon nehmen einmal oder mehr pro Woche am Gottesdienst teil, weitere 2 Prozent zwei- bis dreimal pro Monat. Bei den Muslimen (6,8 Prozent der Bevölkerung) sind die Zahlen höher, aber dennoch niedrig: 4,1 Prozent pro Woche und weitere 3,2 Prozent zwei- oder dreimal im Monat.

Wenn nur aktive Gemeindemitglieder einer bestimmten Glaubensrichtung die Voraussetzungen erfüllen, sich einer Nationalität zugehörig zu fühlen, dann ergibt sich für Russland ein ganz neues Bild von Mehrheiten und Minderheiten.  

Tino Künzel

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