Die hohe Kunst der Diplomatie

Diplomaten sollten mehr Fingerspitzengefühl für die Interessen und Nöte anderer Länder haben als, sagen wir mal, Journalisten. Doch wie lernen sie das? Zum Beispiel bei UNO-Simulationen. Die MDZ hat eine davon in Münster besucht und ist dort auf US-Amerikaner und einen Japaner getroffen, die dort die Interessen Russlands vertreten durften.

Von Jacqueline Westermann

Das Original: eine Sitzung des UNO-Sicherheitsrates in New York / RIA Novosti

Das Original: eine Sitzung des UNO-Sicherheitsrates in New York / RIA Novosti

„Es geht um Menschenleben! Wir müssen uns auf Syrien konzentrieren und dort Schutzzonen einrichten“ – mit dieser Aussage und wild gestikulierend, steht Jaclyn Bonner vor ihren Mitstreitern im Komitee des Hohen Kommissars für Flüchtlinge. Die Flüchtlingskrise in Europa soll mit besonderen Maßnahmen gelöst werden. Jaclyn ist Studentin der Kommunikation und Soziologie an der Howard Payne University in Texas und nimmt an einer Simulation der Vereinten Nationen in Münster teil. Die zierliche Amerikanerin äußert sich hier aber gerade als Vertreterin der Russischen Föderation, genau wie ihre Kommilitonin Sydney Spencer ein paar Räume weiter. Sydney plädiert dort für die Einrichtung eines Expertengremiums durch den Menschenrechtsrat, das von außergerichtlichen und willkürlichen Hinrichtungen betroffene Staaten in deren Bekämpfung unterstützt; sie fordert ein Mitspracherecht bei der Expertenauswahl für Russland.

Jaclyn (r.) im Dialog mit ihrem türkischen Kollegen (vorne l.) / J. Westermann

Jaclyn (r.) im Dialog mit ihrem türkischen Kollegen (vorne l.) / J. Westermann

Sich einmal fühlen wie Barack Obama beim Gespräch mit Wladimir Putin, wie ein Verhandlungsführer im Menschenrechtsrat oder sogar einmal Gebrauch vom Vetorecht im Sicherheitsrat machen – viele junge Menschen träumen davon. In Deutschland und rund um den Globus ermöglichen Simulationen der Vereinten Nationen Studenten das Schnuppern von Diplomatenluft, wenn sie für einige Tage in die Rolle eines Diplomaten schlüpfen. Im Rahmen dieser sogenannten Model United Nations (MUN) werden diverse Organe der UNO simuliert.

Das Münster International Model United Nations (kurz MUIMUN) ist ein Beispiel unter zahlreichen, regelmäßig stattfindenden Konferenzen. Auch in diesem Frühjahr bekommen jeder der rund 200 Teilnehmer ein Land zugeteilt, das nicht seinem Heimatland entspricht. Es gilt nämlich, die Politik anderer Staaten kennenzulernen und zu vertreten. Der Pharmazie-Student Taiki Saito aus Japan erfährt das am eigenen Leib: Er sitzt im Ersten Komitee der Generalversammlung, zuständig für Abrüstung und Sicherheit, das sich in Münster dieses Jahr mit dem Anti-Terror-Kampf beschäftigt. „Die internationale Position Russlands war zwar die treibende Kraft, mich für Russland zu bewerben. Aber es ist nicht immer einfach, seiner Position treu zu bleiben“, sagt er. Russland habe nun einmal sehr konkrete Vorstellungen, wer durch Anti-Terror-Maßnahmen bekämpft werden soll. Bisher läuft es aber gut und Taiko hat keine Probleme, Allianzen zu bilden. Vor allem die kleineren Staaten schließen sich seinen Positionen an.

Natürlich kann so eine Rolle bei einer Simulation auch überspitzt ausgeführt werden, an einigen Stellen wird auch bestimmt übertrieben. Der 22-jährige James Abbatiello, Howard-Payne-Student der Public Relations, muss auf die Frage, wie es denn sei, Russland zu vertreten, lächeln: Er hat bereits fünfmal MUN-Luft geschnuppert und vertritt jetzt zum zweiten Mal Russland. Er findet es gerade als US-Amerikaner sehr spannend, Russland zu vertreten. Es helfe ihm bei seiner Rolle sogar: „Die USA und Russland sind sich gar nicht so unähnlich. Sie haben starke Überzeugungen und setzen sich sehr ein, ihre Ziele zu erreichen.“ Im Sicherheitsrat profitiere er nun davon, als es gilt, Terroristen zu bekämpfen und die Destabilisierung Nordafrikas zu verhindern. „Als Russland kann man schon mal auf den Tisch hauen. Am Morgen habe ich zum Beispiel meine Kollegen im Sicherheitsrat dazu aufgefordert, weniger zu diskutieren, dafür aber mehr zu agieren.“ Beobachter im Komitee berichten auch, dass James/Russland hin und wieder den Gebrauch des Veto-Rechts androhen würde, um so seine Forderungen zu erreichen.

Sydney – die „Russin“ im Menschenrechtsrat – erzählt, dass die Delegation der Howard Payne University sich intensiv vorbereitet hätte. Für die Teilnahme bekommen sie Leistungspunkte an der Uni. Für Sydney ist es bereits die vierte Konferenz. „Es ist echt eine Herausforderung für mich, dieses Mal Russland zu sein. Auch nach viel Recherche bleibt dieses Land teilweise mysteriös, doch immer faszinierend“, erklärt sie. Sie nimmt an den Simulationen teil, um sich in der Diplomatie zu üben, aber auch um Leute aus der ganzen Welt und vor allem ihre Blickwinkel und Meinungen kennenzulernen. Auch für Jaclyn war es ein großer Wunsch, Russland zu vertreten.

Normalerweise werden die Staaten und jeweiligen Komitees vom Organisationsteam zugeteilt, man kann aber Wünsche angeben. Jaclyn bewarb sich für Russland und landete als dessen Vertreterin im Komitee des Hohen Repräsentanten für Flüchtlinge. Bei ihren vorherigen beiden Simulationen hatte sie nur westliche Staaten vertreten, mit Russland suchte sie nun eine neue Herausforderung. „Es ist eine andere Ideologie, es ist anders als alles, woran ich gewöhnt bin“, sagt sie während eines „unmoderated caucus“, der Zeit während der Debatte, die genutzt wird, um inoffiziell zu diskutieren, Positionen auszutauschen und Allianzen zu schmieden.

Bei einer Abstimmung über Lösungsvorschläge für die Flüchtlingskrise / J. Westermann

Bei einer Abstimmung über Lösungsvorschläge für die Flüchtlingskrise / J. Westermann

Doch wie bereitet man sich auf seine Rolle vor? Jaclyn nutzte vor allem die im Vorfeld zur Verfügung gestellten Materialien, durchsuchte aber aber auch das Internet nach Stellungnahmen russischer Diplomaten. Sie las auch die bei der UNO gehaltenen Reden durch und besuchte oft die Internetseite des russischen Außenministeriums. In die Haut eines anderen Staates zu schlüpfen, mache einerseits unheimlich Spaß, sagt Jaclyn. Doch es sei auch nicht immer einfach, vor allem wenn man Kompromisse eingehen müsse. „Im Moment wird mir aber mehr zum Verhängnis, das mein Vorschlag hinsichtlich der Schutzzonen in Syrien unter dem Mandat des Hohen Flüchtlingskommissars wohl kaum zu realisieren ist“, sagt sie und widmet sich wieder den Verhandlungskünsten mit einer dieser Tage selten gesehen Allianz – mit der Vertreterin der USA.

Teilnahmen an MUNs sollen helfen, Prozesse der Vereinten Nationen nachvollziehen zu können, Fähigkeiten zu erlernen und den ein oder anderen auf eine Laufbahn in den internationalen Beziehungen vorzubereiten. Die Simulation in Münster findet seit zehn Jahren statt, die Konferenzsprache ist stets Englisch. Die Studenten bereiten die Konferenz das Jahr über vor: Es gilt Sponsoren zu finden, Örtlichkeiten zu organisieren, Teilnehmer zu motivieren. Ein Stipendienprogramm ermöglicht es Teilnehmern aus Entwicklungsländern nach Münster zu kommen.

Zur Jubiläumskonferenz gab es für die Studenten dieses Jahr noch einen Einblick in die europäische Geschichte: ein historisches Komitee zum Westfälischen Frieden, mit dem im Jahr 1648 in Münster der Dreißigjährige Krieg beendet wurde. In Kostümen, mit Feder, Tinte und Pergament bewaffnet, galt es, Europa nach dem Ende des Krieges neu zu ordnen. Einige Übereinkünfte und Abläufe wichen dann von der historischen Variante ab, das Endprodukt war jedoch das gleiche. Auch in allen anderen Komitees konnten die Studenten nach harter Arbeit tagsüber und den Abendveranstaltungen geschuldetem Schlafmangel nach fünf Tagen Erfolge vorzeigen: Jaclyns Überwindung, im Interesse der Menschen, mit allen Delegierten zusammenzuarbeiten, führte letztlich dazu, dass in ihrem Komitee eine Resolution von allen vertretenen Nationen gemeinsam ausgearbeitet und angenommen wurde. Das Miteinander und echte Interesse der Staaten, eine nachhaltige, friedliche Lösung des aktuellen Themas der Flüchtlingskrise in Europa zu finden, stand in jeder Sitzung im Mittelpunkt. Am Ende gab es keine Gegenstimme, jeder unterstützte die vereinbarten Schritte und Maßnahmen. Eine solche Leistung gibt Hoffnung für eine neue Generation von Diplomaten.

 

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