Die Hacker der großen Stadt

Urban Explorer entdecken Orte, wohin sie das GPS-Signal nicht navigieren kann. Sie erforschen Moskau auf ungewöhnlichen Wegen, halten es auf Fotos fest und veröffentlichen diese im Netz – damit stellen sie unsere Vorstellung von der Megastadt auf den Kopf.

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Blick auf Moskau vom Turm „Evolution“ des Gebäudekomplexes in Moskau City / kirbase

„Weißt du, gerade von Dächern aus kann man sehen, wie in manchen Bezirken, wo eigentlich keine Metro sein kann, aus dem Boden Ventilationsschächte hervorragen. Was sagt uns das?“ fragt mich Pawel Ogorodnikow (pavelog /Instagram). Er ist Urban Explorer. Wir klettern in einem dunklen Moskauer Treppenhaus eine Leiter hoch. Als eine Oma auftaucht, verstummen wir und setzen eine Unschuldsmiene auf. „Wenn du auf der Straße an dieser Stelle vorbeigehst, wirst du es nicht beachten. Doch ein Blick vom Hochhaus lässt keine Zweifel zu: An dieser Stelle verläuft eine geschlossene Linie der Metro.“

Urban Explorer? So bezeichnet man Personen, die den städtischen Raum erforschen. Zu Fuß, gewappnet mit einem Maulschlüssel und zehn Dietrichen im Rucksack. Dächer, verlassene Gebäude, Bunker und unterirdische Tunnel: Urban Explorer durchstöbern alle erdenklichen Orte, die ihnen neue Perspektiven und Blickwinkel auf eine Stadt geben können. Ein wichtiger Teil dieser Subkultur ist, die Suchergebnisse in den Sozialen Medien zu teilen. Das, was normalen Menschen verwehrt bleibt, verwandeln sie in Massenkunst.

Die „Roofer“

In der Urban-Explorer-Szene gibt es eine soziale Ranghöhe. Je höher sie die Leiter klettern, desto organisierter sind die Urban Explorer. Die erste Stufe ist das Roofing. Roofer klettern auf Dächer. Einen Blick zu den Sternen erhaschen kann praktisch jeder. Man muss nur wissen, welche Tür aufs Dach führt. Außerdem gibt es im Internet Nachschlüssel zu fast allen Hauseingängen Moskaus zu kaufen. Schwindelerregende Selfies mit den Sternen der sieben Schwestern, auch bekannt als die stalinistischen Hochhäuser im Zuckerbäckerstil, sammeln tausende von Likes auf Instagram und Co. Dass dieser Extremsport die Meinungen spaltet, kann man an den Kommentaren ablesen: Entweder freudvolle Begeisterung oder Unverständnis über die Leichtsinnigkeit der Roofer.

Heute kann man Roofing ohne Umschweife als Mainstream bezeichnen. Die Dachkletterer treten in Talkshows auf und spielen in Reportagen mit. „Auch ich war praktisch auf allen Hochhäusern Moskaus“, gibt der Roofer Kirill Vselenskij (kirbase) zu. „Außer auf dem Weißen Haus und auf dem Kreml.“ Kirill erzählt mit einem Lächeln, dass seine Freunde und er zu Beginn seiner Roofing-Karriere in den Kabinen von Baukränen abhingen. „Da kann man Mikrowellen und Teekocher finden. Wir brachten Bier und Instantnudeln mit und haben dort gefeiert.“

Künstlerischer Eifer

Alles begann etwa im Jahr 2007, als in Russland das Weblog Livejournal und der Mikroblogging-Dienst Twitter erschienen. Damals begann über den Dächern von Moskau eine regelrechte Jagd nach Rekorden. Jeder versuchte, noch höher zu klettern, und ein noch gefährlicheres Selfie zu machen als der andere. „Wir brauchten keinen Geotag, um zu wissen, wo die Aufnahme gemacht wurde. Wir haben gelernt, einen Ort am Panorama und am Stand der Sonne auf dem Foto zu erkennen“, erzählt Artem Petrov (lahtionov_art), seines Zeichens Urban Explorer.

Als sich der Wettkampf langsam erschöpfte, stellte sich mit der Zeit ein künstlerischer Eifer ein. Roofer begannen mit Fotografie und Video zu experimentieren. Viele können heute davon leben. Einer verdient mit Fotoshootings sein Geld, ein anderer mit romantischen Dates unter den Sternen. Ein Dritter macht nun Kunst. So kann man zum Beispiel bis Ende Oktober auf dem Ausstellungsgelände des WDNCh die von Roofern organisierte Ausstellung „So lange die Stadt schläft“ besichtigen.

Es gibt aber auch ungewöhnlichere Geschichten: Als Kirill auf den Turm „Föderation“ in Moskau City kletterte, lernte er den Besitzer des Turms, den exzentrischen Milliardär Sergej Polonskij kennen. Der Oligarch wusste seinen Mut und seine List, die Sicherheitsleute zu umgehen, zu schätzen und stellte ihn kurzerhand als persönlichen Assistenten ein.

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Verlassenes Schwimmbad einer Kinder- und Jugendsportschule / lahtionov_art

Die „Urbexer“

Die zweite Stufe unter den Urban Explorern nehmen sogenannte Urbexer ein. Die Objekte ihrer Erkundung sind verlassene Gebäude, Fabriken, Kirchen, Schulen, Krankenhäuser und Hotels. Davon gibt es in Moskau mehr als genug – nicht nur am Stadtrand sind sie zu finden, sondern auch innerhalb des Gartenrings. Manche Objekte werden bewacht. Doch das ist für diejenigen, die Fehler im System finden können, kein Problem. Und manchmal reichen zwei Flaschen Wodka aus, um den Wächter zu bestechen.

Urbexer sehen häufig das, was sie eigentlich nicht sehen sollten. Bei denjenigen, die in die Nähe von Staatsgeheimnissen gekommen sind, fahren nicht selten schwarze „Wolgas“ vor. Im Übrigen kommen bei einem Gespräch unter vier Augen im Lichte einer grellen Lampe nicht immer schlechte Resultate heraus. Jungen Menschen, die ein Sicherheitssystem austricksen konnten, bietet der FSB manchmal Arbeit an. Sie können weiter als Urban Explorer unterwegs sein, dieses Mal aber für die nationale Sicherheit.

Die „Digger“

Unangefochten an der Spitze stehen diejenigen, die Moskau von unten erkunden. Man nennt sie Digger. Die Unterwelt der Hauptstadt ist ihr Mekka. Sie sind darauf bedacht, ihre Tätigkeit nicht zur Schau zu stellen, um nicht in die Fänge von Behörden zu geraten. Für das, was sie machen, müssen sie nicht nur mit einer satten Geldbuße, sondern auch mit Haftstrafen rechnen. Unter der Erde ergründen sie Alles: Räume der Metro, die den Normalbürgern nicht offenstehen, geheime Gänge, Militärbunker, Luftschutzräume und Unterwasserflüsse. Unter Tage zu gelangen, ist nicht einfach. Das Herauskommen im Falle eines Einsturzes oder beim Steigen des Wasserspiegels gestaltet sich noch schwierig.

Unter den Urban Explorern sind die Digger die Erkenntnisreichsten. Vor jeder Expedition bereiten sie sich auf das Genaueste vor und organisieren sich in einer Gruppe, denn alleine wagt sich keiner unter die Erde. Auf ihren Aufnahmen sind nicht nur makaber aussehende Tunnel abgelichtet, sondern auch Luftschutzräume mit Wasservorräten, Schlafstätten, Gasmasken, Zelten und Tragebarren. Bedenkt man die aktuelle Terrorlage in der Welt, stellen Bilder von geheimen Orten im Netz ein Spiel mit dem Feuer dar, das sich die Urban Explorer leisten.

таблица урбанChronisten der Stadt

Urban Exploring ist mehr als nur die Jagd nach Herzchen-Likes im Internet um der Werbeinnahmen willen. Hinter den gefährlichen Selfies steht ein neues Verständnis vom städtischen Raum, seiner Vergangenheit und Zukunft.

„Was ich verstanden habe, nachdem ich Moskau von oben bis unten erkundet habe?“, wiederholt Artem Petrov nachdenklich meine Frage indem er eine Rohrzange in der Hand jongliert. Wir stehen auf einem Dach mit Blick auf den Kutusow-Prospekt. Die Hauptstadt bewegt sich dem Sonnenuntergang entgegen. „Die Sowjetunion war ein mächtiger und groß angelegter Staat“, antwortet er. Es dämmert, und die Türme des Geschäftszentrums reflektieren die letzten Sonnenstrahlen. „Das moderne Russland, wenn man ehrlich sein möchte, verarbeitet das sowjetische Erbe nur langsam. Zum Beispiel kann man viele Sowjetbauten nicht einfach abreißen. Sie wurden aus solch einem Beton gebaut, den man nicht so leicht sprengen kann. Gleichzeitig werden schnell Wolkenkratzer und Retorten-Häuser gebaut … Viele kommen nicht mehr mit, die Veränderungen dieser großen Stadt wahrzunehmen. Aber wir sind zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, um diese Momente festzuhalten.“

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