Die goldene Maske

In Moskau fand Mitte April die Verleihung der „Goldenen Maske“ statt. Ausgezeichnet wurden die besten künstlerischen Arbeiten Russlands von etwa 900 Produktionen in 41 Kategorien. Das Theaterfest gehört weltweit zu den größten seiner Art.

Die erste goldene Maske wurde 1993 nach einer Zeichnung Oleg Schejnzis aus Pappmaché geklebt.

Die russiche Theaterlandschaft ist atemberaubend weit wie das russische Land. Wenn das Jahr steigt und die das Vorstellungsstellvermögen europäischer Hirne weit übersteigende Eisigkeit und der Schnee dem ersten Frühlingsregen weichen, finden sich in der Hauptstadt die Theater der acht Zeitzonen Russlands ein – zum Kampf und zur Feier um das begehrteste Requisit des Landes, die goldene Maske.

Wie wird sie zu diesem Namen gekommen sein, mitten im polsowjetischen Transformationsprozess, 1993, in der Werkstatt eines der unzähligen Moskauer Theater, im Theater Lenkom, aus Pappmaché geklebt? Wie hielt sie sich in den zerbrechlichen Jahren danach, in Keramik? Vielleicht spricht die Qualität des Requisits heute von seiner Theaterlandschaft: Die Maske im gerahmten Spiegel spiegelt eine der ältesten und einflußreichsten Theatertraditionen der Welt.

Auf dem Kopf die rote Kappe des Harlekin, auf der Stirn als drittes Auge eine weitere Maske, sich selbst, steht das Requisit im Mittelpunkt des nach ihm benannten Theaterfestes, im Mittelpunkt der mehr als tausend Theater Russlands von Wladiwostok bis St. Petersburg, Rostow am Don bis Magadan und Kamtschatka.

Olga Fedjanina, Kritikerin, Übersetzerin und Dramaturgin in Deutschland und Russland, ist mit den Theaterlandschaften beider Länder vertraut. „Die ,Maske‘ ist sehr groß. Viel, viel größer als das deutsche Theatertreffen. Und im Gegensatz dazu ist es ein Festival mit Wettbewerb.“

In Russland werden die staatlichen Thaeter anders als in Deutschland beim landesweiten Theaterfest nicht prinzipiell bevorzugt. „Die ,Goldene Maske‘ ist ein universelles Festival. Sie müssen alles mitnehmen was entsteht und das ist schwierig, weil die Entwicklungen so unterschiedlich sind, dass Du nicht mehr weißt, nach welchen Kriterien du vergleichen kannst. Natürlich tritt ein Maly-Theater mit anderen Voraussetzungen an, als ein kleines Theater aus Novokulbechesk. Es gibt sehr, sehr viele verschiedene Richtungen. Aber die Goldene Maske muss das alles vergleichen, sonst kannst Du keinen Wettbewerb machen..“

Die Aufgabe des Festivals besteht darin, so viele Subjektivitäten zusammenzutragen, dass daraus ein komplexes Bild entsteht.

Im April wird die Auswahl für einige Wochen an die Moskauer Theater geholt – ans Puschkin-Theater, Wachtangow-Theater, Stanislawski-Theater, Tschechow-Theater, Mayakowski-Theater, Gogol Center, Mayerhold Center, Fomenko-Theater, Tabakow-Theater, Musiktheater Nemirovitsch Dantschenko, Bulgakow-Theater und andere der etwa zweihundert Moskauer Spielhäuser.

Ihren einzigen Auftritt als Requisit hat die goldene Maske jedes Jahr auf der Bühne des Bolschoi-Theaters. Während der großen Zeremonie der Siegerehrung ist in Moskaus ältestem und größtem Theater vielleicht niemandem mehr bewusst, dass nur ein Requisit aus Holz und Glas mit einem Stück Papier die Hände wechselt. „Die ,Maske‘ ist eine Kulturinstanz mit einer hohen Autorität und gerade für Theater aus Regionen ist es ein Kampf, eine Maske zu bekommen. Weil das für sie in ihrem alltäglichen Existenkampf ein wichtiges Argument ist: Wir haben eine Maske.“

Eine der goldenen Masken ging in diesem Jahr in die Hände der RegisseurInnen und SchauspielerInnen des Puppenspiels „Ein Tag länger als ein Leben“ nach Tschingis Aitmatow. Die in einer Kooperation der Künstlervereinigung Taratumb mit dem Gulag-Museum auf die Bühne gebrachte Geschichte handelt davon, wie Menschen mit Gewalt ihres Gedächtnisses beraubt werden. Im Zentrum steht die weite Wanderung des greisen Edige, der den Körper eines verstorbenen Arbeiters auf seinem Karren durchs Land zieht, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Mit beiläufiger Einfachheit durchzieht die Sorge um einen einzigen Körper den Abend, schmerzhaft und zärtlich. Die Requisiten sind in den Lagern Russlands zurückgebliebene Dinge, Exponate des Gulag-Museums. Sichtbar bewegen sich die DarstellerInnen mit ihren Puppen auf der Bühne. Ihre suggestive Kraft – besonders das starke Spiel des Hauptdarstellers – macht es leicht, sich den Figuren zu nähern. Gleichzeitig lässt das offene Puppenspiel eine Distanz, die Gedankenräume öffnet und aus der allein vielleicht ein Teil der russischen Geschichte gezeigt werden kann, der nicht zu verkörpern ist.

„Es ist nicht etwas Didaktisches, das man sich ansieht, weil es sich so gehört, sondern es ist etwas sehr Schönes entstanden“, sagt Fedjanina. „Und dass es als Kooperation mit dem Gulag-Museum entstanden ist, sagt uns deutlich, in welchen Zusammenhang man diesen Gedächtnisverlust stellt. Was nicht ohne Grund ist, weil heute dieser Versuch, die 30er Jahre in der russischen Gesellschaft zu relativieren, meiner Meinung nach eines der scheußlichsten Dinge ist, die hier im öffentlichen Bewusstsein stattfinden.“

Eine Szene aus der Oper Chaadsky, aufgeführt in der Helikon-Oper /Foto: Irina Schymtschak.

Nicht eigenhändig entgegengenommen wurde die Maske für die beste Opernregie – der Regisseur Kirill Serebrennikow sitzt seit dem vergangenen Sommer wegen mutmaßlicher Unterschlagung von Kulturstaatsgeldern in Haft. Der Arrest wurde gerade bis Juni verlängert. Viele sehen darin den Versuch, einen kritischen Künstler mundtot zu machen. Seine für die beste Opernregie ausgezeichnete Arbeit „Chaadsky“ ist eine Liebeserklärung an sein Land. Die beginnt mit einer Persiflage der russischen Gesellschaft – von der Entmündigung des Volks über die Militärs bis zum Patriarchat. „Um sein Land zu lieben, muss man es klar sehen“, singt Chaadsky. Die Bretter, die für ihn und die anderen ProtagonistInnen des Abends die Welt bedeuten, schleppt ein Chor der Lastenträger, schwitzend. Grund dafür, dass der erste Teil trotz des Wahrheitsgehalts und der Stärke der Zeichen eine Spur zu wenig emotional verdichtet bleibt, ist vielleicht das Libretto.

Die explosive Kraft, die sich im zweiten Teil entfaltet, ist umso beeindruckender. „Ich will meinem Mutterland zürnen, streng mit ihm sein, aber es nicht betrügen“ – während das Geplänkel des ersten Teils in eine Hochzeitsfeier mündet, spielt Chaadsky vorne allein mit den Händen im Staub des Bodens. „Korrupt das Hirn der Menschen, die‘s nicht nutzen“, wendet er sich sukzessive ans Publikum. „Und jeder fährt nur fort mit Walzer.“ Von den Brettern auf den durchgeschwitzten Rücken der Lastenträger aus wird der Protagonist für verrückt erklärt. Die Persiflage verdichtet sich zur Tragödie der Konfrontation des Einzelnen mit der Gesellschaft. „Jede Sekunde verlässt eine Seele die Stadt“, singt Chaadsky, „Und wenn wir es bemerken, ist es zu spät.“

Fedjanina bemerkt: „Wenn man sich das ansieht, bekommt man eine Vorstellung davon, was in Russland jetzt Interessantes stattfindet.“ In diesem Jahr sei besonders ein Erstarken der Regionen zu sehen, weniger Klassik, neue Ästhetiken. Vor allem aber breche sich ein gesellschaftlicher Anspruch Bahn. „Den würde ich nicht unbedingt politisch nennen, sondern eher publizistisch. Das Theater versucht, mit dem Zuschauer weniger über Geschichten und mehr über aktuelle Problematiken zu kommunizieren.“

Neben der Arbeit an Moskauer Theatern hat Fedjanina Heiner Goebbels übersetzt und Warlam Schalamow nach München gebracht. Gleichzeitig sieht sie die Entwicklungen des Russischen Theaters im Moment unter den interessantesten überhaupt. „Die Aufgabe des Festivals besteht darin, so viele Subjektivitäten zusammenzutragen, dass daraus ein komplexes Bild entsteht“, sagt sie. „Ich denke, dass das, was am Ende ausgezeichnet wird, tatsächlich für das Bild der Spielzeit steht.“

Wenn sich in der Hauptstadt Moskau die Theater der acht Zeitzonen Russlands einfinden, zum Kampf und zur Feier um die goldenen Maske, zeigt sich auch hier, selten und doch sichtbar, dass es die eigentliche Aufgabe des Theaters ist, dem Leben die Maske abzunehmen, bis sie fällt.

Die Stücke der „Goldenen Maske“ in Moskau

Puppenspiel / Beste Produktion
Gulag-Museum und Taratum/ Ein Tag länger als ein Leben /  И дольше века длится день
3. und 4. Mai
Die Vorstellung findet im Gogol-Center statt.

Theater / Beste Nebendarstellerin
Anastasia Lebedewa
Trommeln in der Nacht /  Барабаны в ночи
Pusсhkin-Theater
17. Mai

Drama / Beste Dramaturgie
Ein Mensch aus Podolsk / Человек из Подольска
Teatr.doc
25. Mai

Theater / Bester Hauptdarsteller
Ben Wjatsheslaw Kowaljow
Exil / Изгнание
11. und 25. Mai 2018

Theater / Bestes Design
Ksenia Peretrhchina
Atmen / Дыхание
28. Mai 2018

Drama und Puppentheater /  Spezialpreis der Jury
Gogol-Center, Team unter  der Leitung von Kirill  Serebrennikow
Für die Etablierung eines kreativen Raums der Freiheit und der kühnen Entscheidungen auf der Suche nach einer Theatersprache der Gegenwart

Fabiane Kemmann

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