Die Geschichte und die Geschichten des Fotografen Jewgeni Chaldej

Im Historischen Museum ist die bisher größte Ausstellung über den Sowjetfotografen Jewgeni Chaldej (1917–1997) eröffnet worden, der vor allem für seine Kriegsbilder bekannt ist, darunter für die berühmte Aufnahme vom Hissen der roten Fahne auf dem Reichstag 1945.

1931, Stalino (heute Donezk)

Jewgeni Chaldej war damals gerade 13 Jahre alt, als er aus Pappkartons und Linsen von Omas Brille seinen ersten Fotoapparat zusammenbaute. Damit nahm er die Verklärungskathedrale in der Stadt auf. Bald darauf wurde die Kirche gesprengt. Chaldej fotografierte ihre Trümmer und begriff die Kraft des Mediums: Auf dem Papier war das festgehalten worden, was es in Wirklichkeit schon nicht mehr gab.

Am Eingang zur Ausstellung „Jewgeni Chaldej. Eine Epoche in Bildern“, die Ende April im Staatlichen Historischen Museum eröffnet wurde, steht ein Ständer mit der Kurzbiografie des wohl bekanntesten sowjetischen Fotografen. Dort sind auch diese ersten Aufnahmen Chaldejs zu sehen.

21. Juni 1941, Lermontow-Museum „Tarchany“

An diesem Tag fotografierte Jewgeni Chaldej, festangestellter Fotograf der Agentur „TASS Fotochronik“, das Museum im Gebiet Pensa. Dort erinnerte man gerade an den 100. Todestag Michail Lermontows. Hier in Tarchany lebte die Großmutter des Dichters. Die Frau mit dem Kopftuch, die mit dem Rücken zum Fotografen und mit dem Gesicht zur verwaisten Kathedrale steht, verabschiedet sich quasi vom friedlichen Leben. So deutet man heute das Foto, welches im Abschnitt, der die Vorkriegszeit beleuchtet, gezeigt wird.

Der Abschnitt „Die Vorkriegszeit“ der Ausstellung (Foto: Olga Silantjewa)

22. Juni 1941, Moskau

„Moskau führte noch ein friedliches Leben. Punkt 12 Uhr sprach der Außenminister W.M. Molotow im Radio. Krieg! Ich rannte aus dem Gebäude und schoss dieses Foto – das erste Foto des ersten Kriegstages“, schrieb danach Jewgeni Chaldej in sein Tagebuch. Es handelt sich um das berühmte Foto, auf dem Menschen zu sehen sind, die der Rede Molotows auf der Straße des 25. Oktober (heute Nikolskaja-Straße, wo sich das „TASS Fotochronik“ befand) lauschten.

Wenn man sich in der Ausstellung dieser Aufnahme nähert, wird aus einem großen Lautsprecher eben diese Rede übertragen. Und man hört mit allen zusammen, dass „heute um 4 Uhr morgens, ohne Vorwürfe gegen die Sowjetunion erhoben zu haben und ohne Kriegserklärung, deutsche Truppen unser Land überfallen haben …“

Abschnitte „Der erste Tag des Krieges“ und „Arktis“ (mut den Fotos aus Murmansk) (Foto: Olga Silantjewa)

Juni 1942, Murmansk

Jewgeni Chaldej, den man zum Kriegsberichterstatter gemacht und der Nordflotte zugeteilt hatte, fotografierte eine alte Frau, die einen großen Koffer schleppte. Hinter ihr waren die Schornsteine eines nach einem Bombenangriff völlig ausgebrannten Stadtbezirks zu sehen. Die Stimme dieser betagten Frau konnte der Fotograf sein Leben lang nicht vergessen. „Wie kannst du nur, mein Sohn, meinen Gram, unser Unglück aufnehmen? Wenn du fotografieren würdest, wie die Unseren Deutschland bombardieren!“, sagte sie. „Ja, Mütterchen, da haben Sie wohl Recht. Aber es wird sicherlich auch zu so einem Foto kommen“, antwortete ihr Chaldej. Seine Aufnahmen von Murmansk dienten als Beweismaterial für die Verbrechen der Nazis beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess.

2. Mai 1945, Berlin

Das berühmte Foto Jewgeni Chaldejs vom Hissen der roten Fahne auf dem Reichstag 1945 (Foto: shm.ru)

Über die historische Aufnahme, auf der Sowjetsoldaten das Siegesbanner über dem Reichstag hissen, ist heute wahrscheinlich alles bekannt. Aber die Ausstellung, die Geschichten auf den Bildern und dahinter zeigt, birgt für jeden etwas Neues. Im Film, der auf der Ausstellung läuft, erzählt Chaldej, wie er zusammen mit dem Schneider Israel Kischizer aus einer Tischdecke dieses Banner genäht hat: „Wenn Hitler gewusst hätte, dass das Banner des Sieges von zwei Juden genäht worden ist …“ Die Mutter und der Großvater Jewgeni Chaldejs sind übrigens 1918 bei einem jüdischen Pogrom in Jusowka (die erste Bezeichnung für Donezk) ums Leben gekommen. Er selbst erlitt eine Schussverletzung.

Jewgeni Chaldej hat die Sieges­parade, die Potsdamer Konferenz und den Nürnberger Prozess fotografisch festgehalten. Die Fotos der Nachkriegszeit zeigen Baustellen und Demonstrationen, fleißige Schüler und Fußballfans, Sportler und Polarforscher. Chaldej zeigte ein Land, das zum friedlichen Leben zurückkehrte.

Unter seinen Helden sind aber auch die Dichterin Anna Achmatowa, der er zufällig begegnete,  und der junge Cellospieler Mstislaw Rostropowitsch. Der Fotograf zeigte den Musiker, der gerade den Stalinpreis erhalten hatte, bei sich zu Hause. Als Hintergrund diente eine ungebügelte Steppdecke. Ungeachtet dessen wurde das Foto ein Klassiker der sowjetischen Fotografie.

Der Abschnitt der Ausstellung „Die Nachkriegszeit“ (Foto: Olga Silantjewa)

In der Ausstellung sind ungefähr 400 Fotos zu sehen. Der größte Teil davon sind Aufnahmen vom Krieg. Es ist die umfassendste Retrospektive Chaldejs. Außerdem sind persönliche Gegenstände des Meisters zusammengetragen worden: seine Fototechnik, das Tagebuch, familiäre Erbstücke, dienstliche Dokumente, die das Siegel „geheim“ getragen hatten.

Die Ausstellung ist bis zum 31. Mai 2023 geöffnet.

Olga Silantjewa

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: