„Die emotionale Bindung verblasst“

Der 9. Mai ist Russlands wichtigster Feiertag. Doch was wird aus dem Gedenken an den Sieg, wenn die letzten Veteranen gestorben sind? Darüber sprach die MDZ mit dem Soziologen und Zeithistoriker Mischa Gabowitsch.

Präsident Wladimir Putin hat wegen Corona die traditionelle Siegesparade auf dem Roten Platz verschoben. Ist das ein bedeutender Einschnitt?

Ja, auf jeden Fall! Als Hintergrund: Die Parade als jährliches Ereignis existiert erst seit 1995. Seitdem ist sie zu einem zentralen Teil der öffentlichen Feiern geworden. Es handelt sich um einen Versuch, die ganze Vielfalt des Kriegsgedenkens zu bündeln und auf einen staatlichen Nenner zu bringen. Was auf dem Roten Platz geschieht, soll weiterhin das Herzstück des Gedenkens sein – und nicht nur die vielen Graswurzelinitiativen, von denen es immer mehr gibt. Verschoben wird aber nicht nur die Parade, sondern fast das gesamte öffentliche Veranstaltungsprogramm. Und das ist und war schon immer sehr viel größer als die Parade. Viele Ereignisse, wie die symbolisch wichtige Eröffnung eines neuen Ehrenmals bei Rschew, mussten zunächst abgesagt werden. Das zentrale, staatlich organisierte Programm wird also reduziert. Dafür verlagern sich viele selbstorganisierte Gedenkinitiativen ins Internet und in den privaten Raum.

Sie beschreiben den Trend einer Personalisierung des Kriegsgedenkens. Was ist damit gemeint?

Das ist eine Tendenz, die wir auf der ganzen Welt beobachten. Zuerst gibt es eine Individualisierung. Man gedenkt nicht mehr nur der Feldherren wie noch im 19. Jahrhundert, sondern immer mehr auch der einzelnen Soldaten. Das setzt in Europa nach den Napoleonischen Kriegen ein und verstärkt sich nach dem Ersten Weltkrieg. In der Sowjetunion fängt das später an: Selbst unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sind anonyme Sammelgräber noch weit verbreitet. Erst später werden auch hier Namenslisten zum Standard. Sie erwähnen, was aus Sicht des Staates wichtig ist: Geburts- und Todesjahr sowie den militärischen Rang. Zunehmend will man aber über solche Listen hinaus eine Geschichte über die Toten erzählen. Die Angehörigen sammeln Informationen über die Großeltern und veröffentlichen diese dann im Internet. Aus schemenhaften Figuren werden die eigenen Vorfahren – sehr langsam – zu dreidimensionalen Persönlichkeiten.

Gibt es eine Initiative, in welcher das Interesse am persönlichen Schicksal der Soldaten besonders deutlich wird?

Ja, das „Unsterbliche Regiment“. Diese Bewegung ist im Jahr 2012 auf Initiative liberaler, durchaus regierungskritischer Journalisten in Tomsk entstanden. Die Idee: Man zieht mit Porträts eigener Verwandter, die als Soldaten oder in der Industrie zum Sieg beigetragen haben, durch die Straßen. So sollte das staatszentrierte Gedenken individualisiert und demokratisiert werden. Die Popularität was sofort enorm: Ein Jahr später gab es solche Aktionen in ganz Russland, zwei Jahre später auch im Ausland. Dann hat sich diese Bewegung aber gespalten. Ein Teil wollte das Verbot politischer Symbolik nicht mehr akzeptieren und begann, mit staatlichen Stellen zu kooperieren. Inzwischen haben sich die beiden Bewegungen halbwegs miteinander arrangiert. Das „Unsterbliche Regiment“ verfügt auch über eine Webseite, auf der Interessierte die Geschichte ihrer Vorfahren erzählen können. Viele recherchieren dafür in der Datenbank des Verteidigungsministeriums, in Tagebüchern oder Archiven und erzählen die Geschichte recht ausführlich.

Das „Unsterbliche Regiment“ ist eine Idee der Enkelgeneration. Wer prägt noch das Gedenken?

In der postsowjetischen Zeit gibt es vor allem drei neue Gruppen, die sich am Gedenken beteiligen. Erstens die schon genannte Enkelgeneration und zweitens – in Überschneidung mit ihr – sogenannte militäraffine Gruppen. Das sind etwa Veteranen späterer Kriege, Angehörige von Berufssoldaten oder Reenactment-Vereine. Mit der Teilnahme am Gedenken für den Zweiten Weltkrieg versuchen sie, sich ein Stück Respekt zu erobern für die eigene Lebensleistung. Denn Kriege wie der Afghanistankrieg haben bis heute eine wesentlich geringere Legitimität in der Öffentlichkeit als der Zweite Weltkrieg. Und schließlich gibt es die Kritiker, die das heutige Kriegsgedenken mit seinem Nationalstolz und dem Hurra-Patriotismus ganz oder teilweise ablehnen. Auch sie sind eine wichtige treibende Kraft, weil sie neben der heroischen Erinnerung auch die Erinnerung an Opfer und Verbrechen wachhalten.

Das 75. Siegesjubiläum ist das letzte runde Jubiläum, an dem noch Veteranen teilnehmen können. Die Kriegsgeneration stirbt. Was heißt das für das Gedenken?

Die wenigen Überlebenden aus der Kriegsgeneration sind ja schon seit Jahren bestenfalls Adressaten des Gedenkens. Die aktive Gestaltung haben längst die Enkel übernommen. Die große Herausforderung wird sein, die heutigen Formen des Gedenkens an die nächste Generation weiterzugeben. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wird weiterhin sehr wichtig bleiben – ähnlich dem Gedenken an den Krieg gegen Napoleon in der späten Zarenzeit. Außerhalb großer Jubiläen wird es aber immer mehr von spezialisierten Gruppen getragen werden, ähnlich dem Bürgerkriegsgedenken in den USA. Die emotionale Bindung verblasst nun einmal in der Urenkelgeneration. Dafür entwickelt sich im Ausland das Gedenken an den sowjetischen Sieg langsam zu einem allgemeinen Ausdruck der Zugehörigkeit zum russischen Kulturkreis.

Das Gespräch führte Birger Schütz.

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