
„Schon als Kind hatte ich mir regelmäßig die schwarzweißen Menschen angeschaut, die bei meinen Eltern mittlerweile in einer Schachtel im Wohnzimmerschrank wohnten. Viele der Menschen sind schon auf den Bildern tot und ich habe den Eindruck, in Kasachstan wurde vor allem auf Beerdigungen fotografiert.“
Mit neun kommt Ira Peter als Kind russlanddeutscher Aussiedler aus Kasachstan nach Deutschland. In ihren Zwanzigern begibt sie sich auf die Suche nach der eigenen Identität. Dazu gehören auch Reisen und Aufenthalte in Kasachstan oder der Ukraine. Sie ist Journalistin und klärt die Öffentlichkeit seit Langem über russlanddeutsches Leben in Deutschland auf. Ihr Buch, das im Frühjahr 2025 erschien, ist ein Resümee ihrer Erfahrungen und kann als Einladung an die Mehrheitsgesellschaft betrachtet werden, die Besonderheit dieser Gruppe zu begreifen.
„Irrtümer und pauschale Annahmen“
Es wird Zeit. Höchste Zeit. Denn mehr als drei Jahrzehnte nach den großen Einreisewellen aus der Sowjetunion, grassieren noch immer Irrtümer und pauschale Annahmen über eine Bevölkerungsgruppe, die mit zweieinhalb Millionen nicht gerade klein ist. Waren es anfangs die Berichte darüber, wie kriminell ihre Jugendlichen waren, kamen später, nach einer langen Funkstille, Meldungen über ihre angebliche AfD-Affinität dazu, die in den letzten Jahren von der Hörigkeit der Russlanddeutschen gegenüber Putin und russischen Medien abgelöst werden.
Es ist nur natürlich, dass es bei Peters Ausführungen viel um Eigenwahrnehmung und Fremdzuschreibungen geht. Sie schreibt über die verzerrten Bilder, die in den Medien vorherrschen und analysiert eine Integration, die wohl überwiegend als gelungen bezeichnet werden kann. In den sechzehn Kapiteln schildert sie die verschiedenen Aspekte, von der Ausreise aus den Herkunftsländern bis zum Wahlverhalten, oder dem angeblichen Wahlverhalten der Russlanddeutschen.
Obwohl der Text mit Zahlen und Fakten aus zahlreichen Studien und Fachbüchern angereichert ist, gelingt es der Autorin stets nahbar und auch nachvollziehbar zu bleiben, da sie sich eng am persönlichen Erleben von einzelnen Menschen bewegt. Für ihr Buch befragte sie Personen aus unterschiedlichen Generationen und interviewte Angehörige aus Freundeskreis und Familie sowie Persönlichkeiten der russlanddeutschen Community, lässt aber auch Kommentare aus den sozialen Medien einfließen. Es kommen auch Nicht-Russlanddeutsche zu Wort, wie der ehemalige Bürgermeister der württembergischen Gemeinde Buchen, in der Ira Peter selbst aufgewachsen ist. Er spricht von einem von vielen Aussiedlern bewohnten Stadtteil als „Kleinkasachstan“, gibt aber auch zu, dass es für die Integration sicher besser gewesen wäre, „wenn man das Fördergeld für einen verstreuten Wohnungsbau gewährt hätte.“
Zwei Zielgruppen
Für die Hiesigen mag dieser Einblick hinter die Kulissen eine neue Welt öffnen. Für jemanden wie mich, die ebenfalls mit neun nach Deutschland kam, war das Lesen dieser Seiten ein Wiedererkennen der eigenen Geschichte. Begriffe wie Notwohnung oder „Sprachi“ (Slang für Sprachkurse) hatte ich längst vergessen. Das, was Ira Peter hier beschreibt, kennen auch andere aus dieser Generation: alte Familienfotos, Kleider vom roten Kreuz und die ersten Tage in Friedland. Oder den Kampf der Eltern um ihre berufliche Anerkennung. Auch für sie ist dieses Buch geschrieben worden.
Einiges war für mich auch neu, weil es damals nicht groß in den Medien vorkam. Zum Beispiel, dass es auch rassistisch motivierte Anschläge auf Aussiedlerheime gegeben hatte. Fraglos überwog die Gastfreundschaft und es gab viel private und staatliche Initiative, dennoch sind Fehler passiert. Auch die weniger angenehmen, ambivalenten Seiten unserer Ankommensgeschichte spart die Autorin nicht aus. Sie benennt deutlich, an welchen Stellen gerade Deutschland oder die deutsche Gesellschaft versagt hat, der Tonfall des Textes bleibt jedoch versöhnlich und vermittelnd.
„Spezialeffekte“
Mit ihren „Spezialeffekten“ und einem „postsowjetischen Trauma“ sind die Russlanddeutschen zugegeben eine Gruppe, die nicht leicht zu handhaben ist. Das zieht sich bis in die heutige Zeit. Es hilft also, die Ereignisse aus der Perspektive der Angekommenen zu betrachten, um ein vollständigeres Bild zu erhalten. Vor allem, weil von der Mehrheitsgesellschaft oft der Einwurf kommt, sie seien verschlossen und blieben gern unter sich. Dieses Verhalten erklärt Peter mitunter mit der Sorge als Angehörige der deutschen Minderheit in der Sowjetunion aufzufallen und den Auswirkungen der traumatischen Erfahrungen, die gerade die Älteren mit dem KGB gemacht haben. Auch die verdrossene Einstellung gegenüber dem Staat, die bei einigen augenfällig ist, kann auf solche Erfahrungen zurückgeführt werden. So wird man still.
Auch die Autorin weiß zunächst nicht viel über die Besonderheiten ihrer eigenen Geschichte, weil in der Familie nicht darüber gesprochen wird. Sie muss sie erst erarbeiten und schreibt hier über das Schweigen, das sich gleich doppelt, von innen und außen, über die Geschichte der Deutschen aus Russland legt.
In einem anderen Kapitel behandelt sie das behördliche Versagen bei der beruflichen Eingliederung der Elterngeneration. Ebenso kollektiv ist das Trauma, das daraus resultiert: die Herabstufung der eigenen beruflichen Leistungen bei so vielen Menschen. So voller Hürden der Aufstieg für Deutsche in der Sowjetunion gewesen war, in Deutschland wird ihnen selbst dieser Erfolg nicht anerkannt. Was dies mit sich bringt, wird wohl kaum jemandem von hier bewusst sein. Und die Konsequenz ist eine flächendeckende Altersarmut in dieser Altersgruppe.
Die Unsichtbaren
Bei der Lektüre wird deutlich, dass „gesehen werden“ ein Grundbedürfnis der Menschen ist. Ebenso wichtig wie Essen und Trinken und ein Dach über dem Kopf, die Anerkennung der eigenen Geschichte, der Identität oder auch des beruflichen Werdegangs. Die Autorin erwähnt beispielsweise die Scham, die damit verbunden ist, aus dem „unentwickelten“ Osten zu stammen mit einer nicht bekannten obskuren Geschichte, die auch noch bedrückend ist, und einer verstümmelten Sprache und Kultur.
Es wird Zeit, dass wir aufhören, uns zu ducken, zu erdulden, aufhören zu schweigen und das Verschweigen-Werden klaglos hinzunehmen. Noch sind zu wenige von uns in Politik und an den Schaltstellen der Medien und der Kultur. Aber es werden jährlich mehr und bald sind wir nicht mehr zu übersehen. Das ist eine gute Entwicklung und dieses Buch wird dazu beitragen – als eine fundierte Aufklärung darüber, was die Russlanddeutschen ausmacht, warum sie hier sind und was sie unter Hiesigen erlebt haben.

„Ein wegweisendes Buch“
Ira Peter ist es mit diesem wegweisenden Buch gelungen, persönliche Erinnerungen mit der Einwanderungsgeschichte und den Erfahrungen vieler zu verknüpfen und auf eine faktenbasierte Ebene zu heben. Es ist ein kluges und gleichzeitig sehr warmes Buch, es ordnet die Ereignisse ein, und bietet Menschen, die nichts mit der russlanddeutschen Kultur zu tun haben, eine ungewohnte Perspektive an. Es liefert auch den längst fälligen „Beipackzettel für die unerwartete Verwandtschaft aus dem Osten“ und lindert womöglich das Befremden, das auf beiden Seiten entstanden ist und noch immer herrscht. Bleibt bloß zu hoffen, dass es in unserer Gesellschaft wahrgenommen wird. Es ist wichtig, dass sich mit diesem Buch die russlanddeutsche Perspektive selbstbewusst neben die vielen Ansichten von außen stellt. Vielleicht hat es diesen unverbindlichen Klang einer Autorin gebraucht, die als Kind gekommen ist und beide Sozialisierungen erfahren hat. Besonders Medienschaffenden ist zu wünschen, dass sie es ausgiebig lesen, damit sie in Zukunft keine journalistischen Verirrungen aus Halbwahrheiten und klischeehaften Zuschreibungen mehr fabrizieren. Und ihnen somit der Gegenwind einer neuen Generation erspart bleibt, die sich bestens auskennt und sich nicht mit Pauschalisierungen abspeisen lässt. Es ist tragisch, aber auch bezeichnend, dass dieses Buch erst jetzt erscheint. Es hätte vieles verhindern und uns die seltsam verschobenen Debatten ersparen können.
Als Stimmungsbild, als Erklärungsversuch ist es vor allem dies: eine Handreichung an alle, die ihre „fremden Nachbarn“, wie es entlarvend in einer SWR-Reportage von 2022 heißt, endlich kennenlernen wollen. Nach mehr als dreißig Jahren, in denen wir hier sind, wird es allmählich Zeit.
Melitta L. Roth