Der letzte Schrei

In der Tretjakow-Galerie findet derzeit die größte russische Ausstellung Edvard Munchs seit 40 Jahren statt. Vor allem das weltberühmte Bild „Der Schrei“ lockt die begeisterten Hauptstädter in die Schau des norwegischen Malers.

Berühmt: Edvard Munchs „Der Schrei“ ist ein beliebtes Fotomotiv. /Foto: Nikolaus Michelson

Moskau, bewölkter Himmel bei knapp zehn Grad. Der Wind bläst durch die Straßen, es sieht nach Regen aus. Kapuzenmäntel und Jacken werden eng an den Körper gezogen. Trotzdem, keiner der Anstehenden in der riesigen Menschenschlange vor der Tretjakow-Galerie hat vor, seinen Platz aufzugeben. Geduldig warten die Menschen, um die größte Munch-Ausstellung in Russland seit 40 Jahren zu erleben.

Die Karten werden knapp – auch im Internet

Im Internet sind Karten nur noch eine Woche im Voraus zu bekommen. „Wir wollen den Schrei sehen!“, erklärt Olja Sastia, die in der Schlange wartet. Ein paar Meter weiter steht Mathematikstudentin Alexandra Golowinowa: „Ich will verstehen, wieso den Künstler die Bücher Dostojewskis reizten“. Nach vollen drei Stunden des Harrens ist endlich der Eingang erreicht. Und das Warten wird belohnt.

Die Ausstellung zeigt rund 120 Schlüsselwerke des norwegischen Künstlers, darunter auch „Der Schrei“ in einer seiner vier Versionen. „Tatsächlich, haben wir Munch in Moskau so noch nicht gesehen und werden ihn wahrscheinlich in den nächsten Jahren nicht zu sehen bekommen“, erklärte Tatjana Mrduljasch, Vize-Direktorin für Entwicklung der Tretjakow-Galerie, gegenüber der Zeitung Kommersant die Bedeutung der Schau. „Die Ausstellung zeigt das gesamte Werk des Künstlers, die Entwicklung und wie er sich verändert hat.“

Der Schrei: In Farbe gebrachte Angst

Das Herzstück in Munchs Schaffen ist der Lebensfries. Dabei handelt es sich um einen Bilderzyklus, den der Künstler zum ersten Mal im Jahr 1902 in Berlin präsentierte. Zusammenstellung und Anzahl der Bilder variierten danach immer wieder, zentrales Thema blieb aber die menschliche Existenz. Munch selbst bezeichnete den Fries als „Dichtung über Leben, Liebe und Tod“. Auch das Gemälde „Der Schrei“ gehört zum Lebensfries: ein aufgerissener Mund, über dem Kopf zusammengeschlagene Hände, in Farbe gebrachte Angst.

Die in Moskau zu sehende, weltberühmte Temperaversion des Bildes ist umringt von Betrachtern. Fast wäre das Kunstwerk aber verloren gegangen. In einem bewaffneten Raubüberfall wurde es 2004 aus dem Munch-Museum in Oslo entwendet. Zwei Jahre später tauchte das Gemälde wieder auf, allerdings konnte es aufgrund von Feuchtigkeitsschäden erst ab 2008, nach längeren Restaurierungsarbeiten, wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Ein russischer Dichter als Inspirationsquelle

Das Werk versinnbildlicht das Herausragende in Munchs Kunst. Er stellt die Abgründe der menschlichen Existenz dar. Er verzichtet auf alles Überflüssige und zeigt den wahren Wesenskern der Dinge. Seine Bilder wirken literarisch, erzählen eigene Geschichten. Als Inspirationsquelle für den norwegischen Maler diente Fjodor Dostojewski, der große russische Schriftsteller.

Munch faszinierte die Gabe Dostojewskis, in seinen Büchern die Seelen der Menschen wie kein Zweiter zu porträtieren. Parallelen in ihren Werken lassen sich leicht finden. Während Dostojewski seine Spielsucht in „Der Spieler“ verarbeitete, reflektierte Munch seine Spielleidenschaft in dem Bild „Am Roulette-Tisch in Monte Carlo“. Munch griff auch auf Motive und Geschichten Dostojewskis zurück. Am rechten Bildrand des Werkes „Selbstportrait. Zwischen Uhr und Bett“ lässt sich zum Beispiel das Aktbild einer Frau finden. Eine Anspielung auf die Erzählung „Die Sanfte“ von Dostojewski.

Auch die Bücher des Schriftstellers haben in der Munch-Ausstellung ihren Platz gefunden. Unter anderem ist das Exemplar von Dostojewskis „Dämonen“ zusehen, welches beim Tod Munchs an seiner Seite lag. Beide Künstler konfrontieren uns mit unseren Schwächen und Ängsten, unseren Emotionen.

Besucher fasziniert anderer Blick auf die Welt

Ein Besuch der Schau hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Wie bei Tes Prochor, einem jungen Zirkusartisten. „Es ist ein völlig anderer Blick auf die Welt, tiefgründig und durchdringend, ich war fasziniert von der Atmosphäre.“

Nikolaus Michelson

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