Der Blick von ganz unten auf die Wahl ganz oben

Die russischen Parlamentswahlen Mitte September werden an den Machtverhältnissen kaum etwas ändern. Doch an der Basis hat es in den letzten Jahren durchaus Bewegung gegeben. Viele kritische Geister sind zu Volksvertretern geworden, so wie der Moskauer Alexej Gussew (31) in seinem Stadtteil Tscherjomuschki. Hier sagt der Historiker, warum ein lange geplantes Interview mit der MDZ nun online stattfinden musste, wie er die Dumawahlen sieht und was die Voraussetzung für Wandel ist.

Arbeitsmigranten aus Zentralasien, die in Moskau viele vergleichsweise schlecht bezahlte Jobs verrichten, schleppen Wahlagitation einer Kandidatin der Machtpartei „Einiges Russland“ durch einen Park. (Foto: Tino Künzel)

Wo erreiche ich Sie denn gerade?

In Tbilisi, Georgien. Ich war leider gezwungen, Russland zu verlassen. Aber ich hoffe, dass ich über kurz oder lang wieder nach Hause zurückkehren kann.

Sie wurden 2012 als Unabhängiger in den Stadtbezirksrat von Tscherjomuschki gewählt, bei den nächsten Wahlen fünf Jahre darauf kandidierten Sie erfolgreich für die Kommunisten. Wir hatten uns vor einiger Zeit schon mal in Tscherjomuschki treffen wollen, um über die Arbeit eines Stadtbezirksabgeordneten zu sprechen.

Das holen wir irgendwann nach. Die Umstände in Russland waren so, dass man mich nach der Teilnahme an einer Demo im Januar mit Ordnungsstrafen überzogen hat. Zehn Tage Arrest können mich nicht schrecken, aber nach der dritten Strafe ist mir klar geworden, dass das jetzt so weitergeht und in letzter Konsequenz auch eine strafrechtliche Verfolgung nicht ausgeschlossen ist. Ich habe keine Gesetze gebrochen und will mir keine Gedanken um meine Sicherheit und die Sicherheit meiner Angehörigen machen müssen, nur weil unsere Obrigkeit panische Angst hat, Wahlen zu verlieren, und weil die Möglichkeiten zu freier Meinungsäußerung immer weiter eingeschränkt werden. Daher die Entscheidung, eine Zeitlang im Ausland zu leben.

Warum ausgerechnet Georgien?

Die Einreise ist auch für russische Staatsbürger visafrei und die Aufenthaltsdauer beträgt bis zu 360 Tage. Es gibt nicht viele Länder, die es Ausländern so leicht machen. Außerdem sprechen hier viele Russisch, was nicht ganz unwichtig ist. Und Georgien ist mental ganz klar Europa. Es wirkt zwar relativ arm, lässt sich aber mit anderen Ländern Osteuropas vergleichen. Ich kann Georgien nur empfehlen. Während wir reden, sitze ich auf der Veranda und schaue einerseits auf die Stadt, andererseits auf Berge, Berge, Berge.

Alexej Gussew verfolgt die Dumawahlen aus dem Ausland. (Foto: Screenshot)

„Lieber online wählen als gar nicht“

Vom 17. bis 19. September wird in Russland die Staatsduma gewählt. Werden auch Sie Ihre Stimme abgeben?

Das habe ich vor, ja. In Georgien gibt es keine russische Botschaft und deshalb auch keine Wahllokale. Zum Zeitpunkt der Wahl werde ich aber voraussichtlich auch schon in England sein. Ich möchte die Zeit für ein Masterstudium in Public Policy nutzen und so einen weiteren Hochschulabschluss erwerben, nach Geschichtswissenschaften und Internationale Beziehungen. In England muss ich erst mal in Quarantäne. Deshalb wird mir so oder so nichts anderes übrig bleiben, als online zu wählen. Davon rate ich zwar allen ab, weil es Manipulationen Tür und Tor öffnet. Aber wenn die Alternative ist, gar nicht zu wählen, dann lieber online.   

Glauben Sie, mit Ihrer Stimme über die politische Zukunft Russlands mitentscheiden zu können?

So weit würde ich nicht gehen. Zweifellos sind diese Wahlen nicht offen und nicht fair, starke Oppositionskandidaten wurden gar nicht erst zugelassen. Angesichts dessen wäre ich schon froh, wenn es bei solchen Quasi-Wahlen wenigstens die eine oder andere Stimme der Vernunft in die künftige Staats­duma schaffen würde.

„Zahl der Politemigranten vierstellig“

Wie hat sich die Ausgangslage seit den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2016 verändert?

Nach den Demos gegen die Verhaftung von Alexej Nawalny zu Beginn des Jahres hat das Vorgehen gegen Andersdenkende erstmals seit längerer Zeit wieder Massencharakter angenommen. Die aussichtsreichsten Kandidaten der Opposition wurden nicht nur nicht registriert, sondern auch verfolgt und außer Landes getrieben. Bei den Polit­emigranten reden wir inzwischen schon von einer vierstelligen Zahl. Damit wurden auch weitere Straßenproteste unterdrückt. Aber ich gehe davon aus, dass die Leute das nicht vergessen und dass sich diese Politik auf lange Sicht als Bume­rang für die Machthaber erweist.

Sprechen wir über Tscherjomuschki.

Ich habe dort mein gesamtes Leben verbracht und im vorigen Jahr übrigens ein Buch über die Geschichte des Stadtteils geschrieben.

Er hat heute über 100.000 Einwohner und liegt ungefähr in der Mitte zwischen dem Stadtzentrum und der Ringautobahn. Was ist das Wichtigste, was man über ihn wissen muss?

Tscherjomuschki – das sind „Chruschtschowkas“. Natürlich gibt es im Stadtbezirk noch viel mehr, aber bekannt ist er vor allem dafür, dass hier, auf dem Gebiet eines alten Dorfes, der sowjetische Massenwohnungsbau begonnen hat. Damals, zur Zeit von Chruschtschow, waren das jene Fünfgeschosser, dank derer tausende Familien erstmals eine eigene, wenn auch einfache Wohnung beziehen konnten. Vielen in der ehemaligen DDR dürfte das ein Begriff sein, denn auch in Dresden, Rostock oder Berlin hat man solche Fünfgeschosser gebaut.

„Mehr Bevölkerungsdichte, weniger Lebensqualität“

In Moskau werden sie seit ein paar Jahren großflächig abgerissen.

Und die Einwohner siedelt man in neue Häuser um, die oft drei- oder viermal so hoch sind. Die Baufirmen verdienen gut daran, aber für den Stadtteil ist das ein Riesenproblem. Die Bevölkerungsdichte steigt, die Lebensqualität sinkt. Soweit ich weiß, macht in Deutschland keiner die Fünfgeschosser platt. Sie werden saniert und damit erhalten. Erst recht käme niemand auf die Idee, Hochhäuser an ihre Stelle zu setzen wie bei uns.

Aber da sieht man eben, was es bedeutet, wenn die Stadt nicht ausreichend den Bürgern verpflichtet ist. Hätten wir freie Wahlen und demokratische Institute wie in Deutschland, dann ginge so etwas nicht. Ich kämpfe seit 2017 gegen das Gesetz über die „Renowazija“. Dass das Programm einige Korrekturen erfahren hat, ist zum Teil auch unser Verdienst. In Tscherjomuschki haben die Bewohner von sechs Häusern beschlossen, gleich ganz aus dem Programm auszusteigen. Von mehr als hundert. Kein großer Prozentsatz also, aber immerhin.

Wie weitreichend sind die Vollmachten eines Stadtbezirksabgeordneten?

Der Spielraum ist sehr überschaubar. In Tscherjomuschki hat die Opposition (Vertreter der Kommunisten und der liberalen Jabloko-Partei – d. Red.) seit der letzten Wahl sieben von zwölf Mandaten inne, kann also Mehrheitsentscheidungen im Interesse der Bürger treffen. Dafür steht allerdings weniger als ein Prozent des Stadtbezirkshaushalts zur Verfügung. Das große Geld ist im Bezirksamt konzentriert, dem verlängerten Arm des Rathauses. Deshalb wäre die wichtigste Aufgabe, eine echte Selbstverwaltung zu erreichen.

Kann Russland von unten zum Besseren verändert werden?

Absolut. Aber das setzt voraus, dass man nicht als Bittsteller bei der Staatsmacht auftritt und so vielleicht das eine oder andere lokale Problem löst, während im Großen und Ganzen alles beim Alten bleibt. Der Schlüssel ist politische Beteiligung. Dann ist ein echter Wandel möglich.

Das Interview führte Tino Künzel. 

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