Das moderne Russland: Von Krise zu Krise

Russland steht vor einer Wirtschaftskrise. Noch gibt sich die Regierung überzeugt, diese zu verhindern und versucht, die Sanktionen aufzufangen. Für die Menschen in Russland ist es nicht die erste Krise, schon mehrfach mussten sie in den vergangenen drei Jahrzehnten schwere Rückschläge miterleben.

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Leere Auslage in einem Lebensmittelgeschäft. Am Ende der Sowjetunion gab es Versorgungsengpässe. Auch später mussten sich die Russen teilweise selbst versorgen. (Foto: Ptyzin/ RIA Novosti)

„Noch nie standen wir vor solchen Herausforderungen“, warnte Oleg Deripaska Anfang März auf dem Wirtschaftsforum im sibirischen Krasnojarsk. Der Oligarch sprach von einer „knallharten“ Krise, die Russland in den kommenden drei Jahren erwartet. Nach der Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk und dem Beginn der „Sonderoperation“ ist Russland zu Rekordhalter in Sachen Sanktionen aufgestiegen. Ganze 9405 Sanktionen hat der Westen bis zum Redaktionsschluss gegen Einzelpersonen und ganze Wirtschaftsbereiche erlassen, alleine 6651 seit dem 22. Februar. „Multiplizieren Sie die 98er-Krise mit drei“, warnte Deripaska vor dem, was den Menschen in Russland bevorstehen könnte. Für die Russen ist die Anspielung auf die Wirtschaftskrise 1998 ein Wirkungstreffer. Bis heute ist diese Zeit tief im kollektiven Gedächtnis verankert, als der Punkt, an dem Russland völlig am Boden war. Dabei gab es schon vorher und auch hinterher Krisen, die den Menschen viel abverlangten.

Schwerer Übergang ins neue System

Die Geschichte des modernen Russland ist auch eine Geschichte der Krisen. Allein sechs Wirtschaftskrisen durchlebte das Land in den vergangenen 31 Jahren, dazu noch politische. Genau genommen wurde der heutige russische Staat aus einer Krise geboren. Ende der 1980er Jahre war die Sowjetunion wirtschaftlich am Ende. Der Ölpreis fiel und mit ihm die Deviseneinnahmen. Im Land selbst führte die Prohibitionspolitik Michail Gorbatschows zu sinkenden Steuereinnahmen. Gleichzeitig musste der Staat viele Rubel für den Krieg in Afghanistan aufwenden. In der Sowjet­union wurden die Lebensmittel knapp, vieles gab es nur gegen Marken.

Nach dem Augustputsch wurde die Sowjetunion ein Fall für die Geschichtsbücher. Die Russen erwartete nicht nur ein neuer Staat, sondern auch ein neues Wirtschaftssystem. Im Dezember 1991 beschloss die Regierung von Boris Jelzin, die Preisbindung fast aller Waren aufzuheben. Der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft war beschlossen. Lebensmittel und andere Waren gab es nun ausreichend, aber viele Menschen konnten sie nicht kaufen. Denn der Rubel setzte zu einer Hyperinflation auf fast 2600 Prozent an.

Es war die schwerste Krise, an die er sich erinnern kann, schildert ein Geschäftsmann aus der sibirischen Millionenstadt Omsk dem Online-Portal „ngs55“. Vor allem, weil sie unerwartet kam. Nicht alle fanden sich im neuen Wirtschaftssystem zurecht. In vielen Regionen wurden Waren nicht mit Rubel, sondern mit anderen Waren bezahlt. Wer damals flexibel agierte, konnte gutes Geld verdienen. Wer nicht, verlor, wie sehr viele Russen, seine Arbeit.

1991 begann auch die vierte große Emigrationswelle in der russischen Geschichte. Russlanddeutsche, Juden, Russen auf der Suche nach einem besseren Leben verließen in Scharen das Land. Nach Angaben von Einwanderungsbehörden westlicher Länder kehrten mehr als 800 000 Menschen Russland in den 1990ern den Rücken. Nicht alle davon jedoch für immer.

1998 – der große Crash

Russland war nun endgültig im Kapitalismus angekommen und meisterte ihn zunächst auch gut. Die Preise stabilisierten sich, die Wirtschaft nahm die Produktion wieder auf und die Menschen erhielten wieder regelmäßig ihre Löhne. Doch der bescheidene Wohlstand stand auf wackeligen Füßen. Denn der Haushalt war unausgeglichen. Viel Geld ging an ausländische Lobbyisten, der Kreml leistete sich aus sowjetischem Erbe weiterhin großzügige Sozialleistung und musste Altlasten des sozialistischen Staates begleichen und der Wechselkurs des Rubels war nicht frei. Als der Ölpreis fiel und die asiatischen Tigerstaaten 1997 in die Krise rauschten, war es auch um Russland geschehen. Ausländische Investoren zogen massiv ihr Geld ab, es kam zur Kapitalflucht.

„Es wird keine Abwertung geben – das ist sicher und unumstößlich“, versuchte Präsident Jelzin seinen Landsleuten die Angst vor einem Rubelverfall zu nehmen. Doch es brachte nichts. Die Zentralbank musste ihre Währungsunterstützung aufgeben und erklärte die Zahlungsunfähigkeit. „Default“ ist bis heute ein Schreckenswort für viele Russen, das auch aktuell über allem schwebt.

Über Nacht verlor der Rubel 1998 massiv an Wert, binnen eines halben Jahres sank der Wechselkurs zum US-Dollar von 1:6 auf 1:21. Wer konnte, kaufte noch schnell Technik ein, Waschmaschinen waren ein begehrtes Gut. Vor den Banken bildeten sich lange Schlangen, doch standen umsonst für Geld an. Einige Geldhäuser gingen bankrott, so wie auch viele kleine und mittlere Unternehmen. Wer noch arbeitete, musste oft monatelang auf sein Gehalt warten. Das gab es meist zu Feiertagen wie dem 1. Mai oder 7. November, wie sich Zeitzeugen erinnern. Viele Russen ernährten sich damals vom dem, was ihr Garten hergab.

2008 – die Blase platzt

Nach dem großen Crash kam der große Aufschwung. Auch dank verschiedener Reformen und neuer Gesetze kam die Wirtschaft wieder ins Laufen. Auch wurden Auslandsschulden getilgt und die Finanzen stabilisiert. Einige Experten gingen gar davon aus, dass Russland 2020 zu den Top-5-Wirtschaftsnationen gehören wird. Der Journalist Oleg Kaschin schrieb damals in seinem Blog, dass die Russen sich an Wladimir Putins erste Amtszeit als die sattesten und wohlhabendsten Jahre in der jahrhundertealten Geschichte Russlands erinnern. Der Wohlstand beruhte jedoch auf hohen Rohstoffpreisen. 2008 platze schließlich die Blase. Die Krise 2008 war eine Krise der Privatwirtschaft. Die konnte ihre Euro- und Dollarkredite nicht mehr bedienen. Der bewaffnete Konflikt in Südossetien trug seinen Teil dazu bei. Sichtbarstes Zeichen der Krise 2008 waren die Bauruinen, die überall im Land noch jahrelang stehenblieben.

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Viele Russen haben die Wechselkurse immer fest im Blick. (Kirill Sykow/ AGN Moskwa)

2014 – die erste Sanktionskrise

Es war fast wie 1998, sagen einige Russen. Nachdem Russland im März 2014 die Schwarzmeerhalbinsel Krim angliederte, reagierte der Westen mit Sanktionen. Im November gab die Zentralbank ihre Unterstützung für die Landeswährung auf. 2015 fiel der Rubel kurzzeitig bis auf einen Wechselkurs von 1:100 zum Euro. Der Kreml reagierte auf das westliche Vorgehen mit Importsubstitutionen. Die waren vor allem in der Landwirtschaft recht erfolgreich, zahlten sich in erster Linie aber für die Produzenten aus. Weil die Konkurrenz fehlt, müssen Verbraucher seitdem mehr für Lebensmittel zahlen. Geld war beim Staat immer noch vorhanden. Sozialprogramme wurden nicht zusammengestrichen. Dafür wurde aber eine Reihe von nationalen Projekten aufgelegt, die Wachstum schaffen sollten, vorerst aber viel Geld verschlangen.

Die Maßnahmen der Regierung wirkten nur teilweise. Die Löhne der Russen sanken 2015 um zehn Prozent und stiegen im Jahr darauf lediglich um 0,7 Prozent. Denn anders als 1998 gab es kein schnelles Wachstum. Noch 2019 lagen die Einkommen unter dem Wert von 2014. In einer Untersuchung des Soziologischen Zentrums der Russischen Akademie der Wissenschaften, die RBK zitiert, sprachen 47 Prozent der Befragten von einem „substantiellen“ und „katastrophalen“ Verlust in den Jahren von 2014 bis 2016.

Allerdings haben die Russen auch wenig unternommen, um ihre Situation zu verbessern, meinen Experten von Institut für Sozialanalyse und -prognose der RANEPA-Universität. Die Menschen seien sehr passiv, haben nicht in ihre Bildung investiert oder sich einen besseren Job gesucht, sagte Institutsleiterin Tatjana Malejewa bei der Präsentation. Die Russen haben schlicht darauf gewartet, dass die Krise vorbeigeht und mussten feststellen, dass sie lange anhält. Faul seien die Russen dennoch nicht, betonte Malejewa, es habe in den vergangenen Jahren schlicht weniger Möglichkeiten gegeben. Die einzige Maßnahme, um die Krise zu überstehen, war die Kürzung der eigenen Ausgaben. Und wer konnte, versorgte sich wieder aus dem eigenen Garten.

2022 – die zweite Sanktionskrise

Bis zum Beginn der „Sonderoperation“ sahen Analysten für 2022 ein Wirtschaftswachstum von 2,8 Prozent voraus. Jetzt Prognosen abzugeben, ist unmöglich. Vielleicht eine Mischung aus 1998 und 2014/15, meint Sofja Donez, Hauptökonomin von Renaissance Capital. Die Rezession könnte so schwer werden wie 1998 und wie nach 2014 jahrelang andauern. Deripaska geht von einem Zeitraum von bis zu zehn Jahren aus. Dann, so zitiert ihn die Nachrichtenagentur „RIA Nowosti“, könne man wieder auf dem Niveau von 2007 sein.

Daniel Säwert

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