Isaak Lewitan war das ziemliche Gegenteil eines Menschen, der mit sich und der Welt zufrieden ist. Der „Puschkin der russischen Landschaftsmalerei“, wie ihn der Biologe Kliment Timirjasew einmal nannte, wuchs in Armut auf und verlor früh seine Eltern. Als Jude war er gleich mehrfach gezwungen, Moskau zu verlassen. 1873 wurde er mit 13 Jahren in die Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur aufgenommen. Und obwohl er ihr wohl talentiertester Schüler war, gab es für ihn zum Abschluss nicht einmal ein Diplom. Wie der Schriftsteller und Journalist Konstantin Paustowski später schrieb, sei der „begabte jüdische Junge“ für manche Lehrer ein Ärgernis gewesen. „Ein Jude sollte ihrer Meinung nach die Finger von russischer Landschaftsmalerei lassen. Die war russischen Malern vorbehalten.“
Ein Herzleiden machte Lewitan von frühester Jugend an zu schaffen und führte letztlich zu seinem frühen Tod im Jahr 1900, kurz vor seinem 40. Geburtstag. Da war er längst eine Berühmtheit, erfolgreich und anerkannt. Doch Selbstzweifel plagten ihn bis zum Schluss. Zweimal versuchte er, sich das Leben zu nehmen, gescheiterte Beziehungen lasteten auf seiner Seele, so dass sich Freunde wie der Schriftsteller Anton Tschechow und der Industrielle Sergej Morosow ständig um ihn sorgten.
„Nicht ganz von dieser Welt“
Der namhafte Maler Konstantin Korowin, ein Zeitgenosse und Kommilitone des großen Kollegen, erinnerte sich so an ihn: „Lewitan war irgendwie nicht ganz von dieser Welt, gänzlich abgetaucht in die verborgene Poesie der russischen Natur. Er sagte mir betrübt: ,Maler werden nicht geliebt und nicht gebraucht. Nimm Sawrassow, ein großer Maler – und was soll man sagen? Ich war bei ihm zu Hause, selbst dort mag ihn keiner. Alle sind gegen ihn, er ist ein Fremder im eigenen Haus. Schriftsteller versteht man leichter als Maler. Meine Nächsten sagen mir: Male Landhäuser, Bahnsteige, einen fahrenden Zug oder Blumen, Moskau, aber du malst stattdessen den grauen Tag, den Herbst, Waldstücke – wer will das schon? Das ist öde, das ist Russland, nicht die Schweiz, was für Landschaftsmalerei? Ich kann mit ihnen nicht reden. Das bringt mich ins Grab, ich hasse das.‘“
Doch ohne sein kompliziertes Innenleben, ohne die ewige Suche nach Glück und Erfüllung wäre Lewitan wohl kaum so rastlos und produktiv gewesen. Sein Nachlass zählt um die 1000 Gemälde und Skizzen. Das „goldene Zeitalter“ der russischen Landschaftsmalerei an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert ist untrennbar verbunden mit seinem Namen und seinen ländlichen „Stimmungsbildern“. Menschenleer, tiefsinnig, schwermütig. Als „musikalisch“ wurden sie zu ihrer Zeit oft beschrieben.
Auch im Jahr 2023 ist eine Lewitan-Ausstellung ein Ereignis, und zwar nicht nur in Moskau oder St. Petersburg. In der Kleinstadt Swenigorod westlich von Moskau werden noch bis Ende Februar Arbeiten Lewitans, seiner Lehrer und Schüler gezeigt. 45 Gemälde für „Um Lewitan“ stammen dabei aus dem Russischen Museum in St. Petersburg.
Die Moskauer Schule der Landschaftsmalerei
Selbst an Wochentagen ist die Exposition in der Manege, dem ältesten säkularen Bauwerk der Stadt, nach aufwendiger Rekonstruktion erst im März als modernes Ausstellungszentrum wiedereröffnet, gut besucht. Sie lohnt auch die 60 Kilometer Anfahrt von Moskau. Geöffnet ist dienstags bis sonntags von 10 bis 19 Uhr, der Eintritt kostet 250 Rubel.
Demonstrieren möchte die Ausstellung die Besonderheiten der Moskauer Schule der Landschaftsmalerei. Von der akademischen Petersburger Schule habe sie sich durch das Bestreben unterschieden, raus aufs Land zu fahren und die Staffelei direkt in der Natur aufzustellen, heißt es. Hatten die ersten russischen Landschaftsmaler im 18. Jahrhundert noch satte Idealbilder entworfen (und vor allem in Italien gefunden), so löste später Realismus diese Romantisierung ab. Die oft genug unspektakulären, schlichten und auf den ersten Blick wenig malerischen russischen Landschaften wurden mit viel Liebe und Leidenschaft neu entdeckt. Gerade die Zwischentöne machen ihren Reiz aus. Die Pinsel von Meistern wie Lewitan, Korowin und Sawrassow brachten sie zum „Sprechen“.
„Nicht zu sehen, aber zu hören“
Alexej Sawrassow, den Lewitan als seinen ersten Lehrer betrachtete, drückte das einmal so aus: „Du musst lernen, so zu malen, dass die Lerche auf dem Bild nicht zu sehen, aber ihr Gesang zu hören ist.“
Sawrassow leitete ab 1858 die Landschaftsmalereiklasse in der Moskauer Hochschule für Malerei, wo er auch Lewitan mit seiner Begeisterung ansteckte, Natur zu erfühlen. Bekannt ist er vor allem für sein Werk „Die Saatkrähen kehren zurück“ (1871), das den nahenden Frühling feiert, obwohl es kaum als idyllisch zu bezeichnend ist. Schon russische Grundschüler lernen anhand des Gemäldes, sich mit Kunst auseinanderzusetzen – und mit der heimischen Natur. Die Ausstellung in Swenigorod präsentiert eine spätere Variation davon unter dem Titel „Vorfrühling“.
Das ländliche Swenigorod
Swenigorod ist ein guter Ort, um sich russischer Natur und ihrer Darstellung in der Kunst zu nähern. Während in anderen Richtungen Moskau einfach kein Ende nehmen will, ist die westliche Umgebung relativ grün. Wenn sich – genau aus diesem Grund – nicht die eine oder andere Villensiedlung dazwischenschiebt, geht es schon auf der Fahrt nach Swenigorod durch ausgedehnte Wälder.
Die Gegend um die Stadt selbst wird als „Russische Schweiz“ gerühmt. Das ist natürlich maßlos übertrieben, die Erhebungen sind auch nicht höher als in Moskau. Doch so, wie sich der Aufstieg vom Ufer der Moskwa in die Sperlingsberge steil anfühlen kann, so kostet hier der Weg vom selben Fluss zu einem der ältesten und sehenswertesten Klöster im Moskauer Umland die eine oder andere Schweißperle. Gegründet wurde das Kloster vom Mönch Sawwa 1398.
Beliebte Filmkulisse
Ungefähr zur selben Zeit wurde Swenigorod, dessen Wurzeln bis ins Jahr 1152 zurückreichen sollen, zweimal von der Goldenen Horde verwüstet. Anfang des 17. Jahrhunderts fielen mehrere falsche Zaren über das Städtchen her. Im Zweiten Weltkrieg wäre es fast in die Hände der Deutschen geraten. Doch die wurden im Spätherbst 1941 gerade noch rechtzeitig zurückgeworfen, als die sowjetische Gegenoffensive vor Moskau begann.
Heute ist Swenigorod mit seinen 37.000 Einwohnern einer der beschaulicheren Orte in Podmoskowje, mit einer sympathischen Innenstadt entlang der Moskauer Straße, etlichen Museen sowie in unmittelbarer Nähe mehreren Sanatorien und Landgütern. Wegen solcher Eigenschaften diente er bereits zu Sowjetzeiten zahlreichen Filmemachern als Kulisse, darunter für „Solaris“ von Andrej Tarkowski (1972), „Krieg und Frieden“ von Sergej Bondartschuk (1967) und „Die unwahrscheinlichen Abenteuer der Italiener in Russland“ von Eldar Rjasanow (1974).
Auch Isaak Lewitan hat sich ab 1884 wiederholt in Swenigorod und der Siedlung unterhalb des Klosters aufgehalten, um zu malen. Noch ein Grund mehr, einen Ausflug von Moskau nicht auf die Besichtigung der Ausstellung in der Manege zu beschränken, sondern die Stadt mit eigenen Augen zu sehen. Und vielleicht ein bisschen auch mit seinen.
Tino Künzel