Das Haus und sein Los: ein Rettungsversuch in Marx

Das Gebäude in Marx, das bis zur Oktoberrevolution das Mädchengymnasium beherbergte, wird in Kürze ungeachtet des baufälligen Zustandes in ein Boutique-Hotel umgewandelt. Hier sollen Gäste mit der Geschichte der Wolgadeutschen in Berührung kommen können, ihre traditionellen Gerichte kosten und die Atmosphäre ferner Zeiten spüren. Ein Märchen?

So sieht das ehemalige Mädchengymnasium heute aus. (Foto: Olga Silantjewa)

„Wenn wir den Tourismus in Marx voranbringen wollen, dann dürfen wir das historische und architektonische Erbe, das wir besitzen, nicht zerstören, sondern restaurieren“, erinnert Jelena Geidt, die Vorsitzende der National-Kulturellen Autonomie der Deutschen im Kreis Marx, in den Sitzungen der städtischen Selbstverwaltung immer wieder. Dabei wird sie von Irina Awramidi, der Direktorin des Marxer Heimatmuseums unterstützt.

Leider hört man nicht immer auf sie. „Vor fünf Jahren wurde eine zweistöckige alte Villa abgerissen“, erzählt Jelena Geidt. Aber es ist ihr und Irina Awramidi gelungen, die Villa des Kaufmanns Karle, in der sich das Heimatmuseum befindet, auf das staatliche Restaurierungsprogramm zu setzen. 2022 wurde das Gebäude, welches an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert im eklektischen Stil errichtet worden war, vollständig restauriert.

Das Mädchengymnasium in der vergangenen Jahren

Das Gebäude des Mädchengymnasiums, das zur gleichen Zeit und im gleichen Baustil gebaut wurde, hatte bis jetzt weniger Glück. Es steht in der Straße nebenan, die heute Kommunistische Straße heißt. Bis 1917 war es die Uferstraße, die an einer Bucht entlangführt. Dahinter folgt das Ufer der Wolga. Heute sieht das einstöckige Ziegeleckhaus aus wie zusammengeschrumpft, als ob es sich hinter Birken und Tannen verstecken will. Es steht schon zehn Jahre leer.

Einst war es aber wahrscheinlich die architektonische Dominante der Uferstraße. Hier lernten ungefähr 150 Mädchen. Die meisten stammten aus Familien der deutschen Kolonisten. In dem Gebäude im Hinterhof wohnten die Schülerinnen. Dort befanden sich auch die Pferdeställe. Nach der Revolution wurde aus dem Gymnasium eine gewöhnliche Schule. Danach hatte man dort die Abendschule eröffnet, und später kam die sowjetische Organisation für Sport und Verteidigung DOSAAF darin unter. Der letzte „Hausherr“ war das Zentrum für außerschulische Arbeit. Daran erinnern noch die Kinderzeichnungen in den Fluren und Klassenräumen. Das Gebäude auf dem Hof gehört heute einem anderen Eigentümer.

Das Mädchengymnasium im Jahr 1915 (Foto: Soziale Netzwerke)

Das Gebäude des Gymnasiums heute

Einige Jahre versuchten die einheimischen Funktionäre, das Gebäude des Ex-Gymnasiums zu verkaufen. Engagierte Bürger wie Jelena Geidt suchten einen Käufer, der das historische Gebäude restaurieren könnte. Die ehemalige Chefarchitektin von Marx und heute die Direktorin einer Saratower Firma, die mit Objekten des kulturellen Erbes zu tun hat, Xenia Jewsejewa, half ihnen dabei.

„Wir gingen einst mit Frau Geidt in dieses Gebäude, und mich haben sein Geist, der innere Zustand und die Kellerdecken in Bann gezogen“, sagt Xenia Jewsejewa.

2022 fanden sie einen Investor, den Inhaber einer Baufirma Alexej Kusnezow.

Das Boutique-Hotel „Marxstadt“

Der Wunsch, das ehemalige Gymnasium zu retten, gipfelte in der Idee, in diesem Gebäude ein Boutique-Hotel mit einem kleinen Café und einem Konferenzsaal zu eröffnen. Den Namen dafür gibt es schon – „Marxstadt.“

Das gesamte Gebäude, das sind über 800 Quadratmeter, wird über die Geschichte der Stadt Marx und die Wolgadeutschen erzählen. Im Café werden den Gästen die Gerichte der wolgadeutschen Küche serviert, in den Fluren wird es eine Ausstellung historischer Dokumente und Fotos geben. „Wir möchten ein Zimmer mit dem Aroma der Apfelgärten erfüllen, für die die Stadt bis zum Krieg bekannt war“, erläutert Xenia Jewsejewa die verschiedenen Ideen.

Davon gibt es viele. Man will das Hotel für alle möglichen Zielgruppen gestalten. Bei der Innenarchitektur sollen Gehölze verwendet werden, die auch beim Bau des Hauses zum Einsatz kamen. Zum Teil sind sie morsch, aber den erhalten gebliebenen wird ein zweites Leben eingehaucht. Man möchte verschiedene Veranstaltungen im Hause haben und sie auch selbst organisieren.

Das Gebäude in Marx, das bis zur Oktoberrevolution das Mädchengymnasium beherbergte, wird in Kürze ungeachtet des baufälligen Zustandes in ein Boutique-Hotel umgewandelt. Hier sollen Gäste mit der Geschichte der Wolgadeutschen in Berührung kommen können, ihre traditionellen Gerichte kosten und die Atmosphäre ferner Zeiten spüren. Ein Märchen?
So wird das Haus aussehen. (Bild: Boutique-Hotel „Marxstadt“)

Die Ausstellungen kommen zuerst

Die Untersuchung des Objekts in der Kommunistischen Straße ergab, dass sich das Gebäude in einem schlechten Zustand befindet. In einem Teil ist das Fundament verrottet. In einem anderen ist es erhalten, aber man muss es verstärken, Wände hochziehen und das Dach decken. Das Objekt soll schrittweise in die Nutzung überführt werden. Der erste Schritt: die Eröffnung der Sonderausstellungen. „Für uns ist es wichtig, dass dort Leben einzieht“, meint Xenia Jewsejewa.

Vieles klingt im Moment noch wie ein Traum. Aber Xenia Jew­sejewa und Jelena Geidt sind überzeugt, dass es ihnen gelingen wird, in Marx ein einzigartiges Objekt, das mit der Geschichte der Wolgadeutschen in Zusammenhang steht, aus der Taufe zu heben. Vielleicht hat das Haus tatsächlich das große Los gezogen?

Olga Silantjewa


Gebiet Saratow

Die ersten deutschen Kolonien wurden im Wolgagebiet, bei Saratow, in den 1760er Jahren gegründet. Die größte Kolonie war Katharinenstadt, heute die Stadt Marx. 1918 wurde sie zur Hauptstadt der neu gegründeten Autonomie der Wolgadeutschen. 1922 wurde Pokrowsk (heute Engels) zur neuen Hauptstadt. Die deutsche Autonomie wurde 1941 aufgehoben und ihr Territorium zwischen den Gebieten Saratow und Stalingrad aufgeteilt.

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: