„Bylinny Bereg“: Zurück nach Altrussland

Um in die Atmosphäre der alten Rus einzutauchen, muss man nicht unbedingt in die Bibliothek gehen. Besucher des jährlichen Festivals der lebendigen Geschichte „Bylinny Bereg“ können das Alltagsleben und die Kriegskunst jener Epoche erleben und für drei Tage selbst Teil davon werden.

Bylinny Bereg
Der traditionelle Festivalsort am Wolgaufer im Gebiet Kimry in der Region Twer
(Foto: Telegram Bylinny Bereg)

Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich inmitten der faszinierenden Natur der Wolga, in der Stille, wo nur das rhythmische Schlagen der Ruder auf dem Wasser zu hören ist, wo durch den Nebel und den Rauch der Lagerfeuer ein altrussisches Segelschiff ans Ufer fährt. Und die Wikinger kommen an Land. Dies ist keine Vision oder ein Mittagstraum. Das ist ein Teil des Programms des Festivals „Bylinny Bereg“ (sagenumwobene Küste).

„Das Fahren mit dem altrussischen Segelboot ist für mich das denkwürdigste Ereignis in den vier Jahren, in denen ich am Festival teilnehme“, sagt Julia Slessaruk, eine Buchhalterin. „Die Empfindungen sind unvergesslich. Ich, in einem Leinenkleid, segle zusammen mit meinen Freunden auf einem historischen Segelschiff durch die Weiten der Wolga, wie es unsere Vorfahren taten“.

Bylinny Bereg
Iwan Kulagin, Festivalorganisator, mit Darstellerinnen (Foto: Telegram Bylinny Bereg)

Das dreitägige Festival „Bylinny Bereg“ unterscheidet sich von den anderen historischen Festivals durch die Vielfalt des Programms. Es handelt sich nicht um ein gewöhnliches Open Air, bei dem man nur Musik hören kann, die dem Thema des Festivals entspricht: der Ära der alten Rus und der Wikinger. Es geht in erster Linie um eine Reenactment-Veranstaltung, die die Entstehung des altrussischen Reiches im 9. bis 11. Jahrhundert inszeniert.

„Ich bin seit meiner Kindheit von der Geschichte der Entstehung des altrussischen Reiches fasziniert“, sagt Iwan Kulagin, der Veranstalter des Festivals. „Später, als ich mich für historische Inszenierungen interessierte, wurde ich von der Idee angesteckt, mein eigenes historisches Festival zu gründen. Und seit 2011 ist diese Idee in die Tat umgesetzt“.

Bylinny Bereg
Schmied Viktor Malyschew bei der Arbeit (Foto: Aus dem Archiv von Viktor Malyschew)

Seit 2023 wird das Festivalprogramm durch eine wissenschaftliche und pädagogische Vortragsreihe ergänzt, die einen wissenschaftlichen Ansatz für das Studium der Geschichte fördern soll. Kandidaten und Doktoren der Geschichtswissenschaften, Soziologen, Philosophen, Linguisten, Kulturwissenschaftler und Geschichtsblogger treten hier auf.

Wahrscheinlich hat man dank der Vortragsreihe auch jene Jugendlichen gewinnen können, die bisher nicht erreicht wurden. „Unser Festival ist sowohl familien- als auch jugendfreundlich“, erklärt Iwan Kulagin. „Während viele Festivals nur eine Zielgruppe wählen, konzentrieren wir uns auf zwei“.

Bylinny Bereg
Schaukämpfe sind einer der Höhepunkte des Festivals. (Foto: Telegram Bylinny Bereg)

Die Worte des Veranstalters bestätigt auch Viktor Malyschew, ein Schmied aus der Schmiede „Wöland“ und Freiwilliger des Festivals: „Ich denke, man kann Kinder ab fünf oder sechs Jahren mit zum „Bylinny Bereg“ nehmen. Sie werden sich nicht langweilen. Eine besondere Kategorie sind die Kinder der Teilnehmer an den Inszenierungen. Hier sieht man sogar Babys“. Und tatsächlich scheinen die Nachfolger der Reenactors, die oft barfuß in historischen Kostümen am Wolgaufer herumlaufen, harmonisch in den Raum des Festivals zu passen.

Teilnehmer der Reenactment-Veranstaltung leben in einem Zeltlager, das etwas abseits der Touristen liegt. Sie experimentieren oft mit authentischem Essen, das unsere Vorfahren zubereitet haben. Zum Beispiel Kohlsuppe oder Brei mit Wasser. Alles ohne Gewürze. Einige gehen noch weiter und schlafen auf Stroh oder Fellen, um vollständig in die Epoche einzutauchen. „Das sieht von außen natürlich toll aus, aber für uns moderne Menschen, die an Komfort und Schlafsäcke beim Wandern gewöhnt sind, ist es absolut unbequem, darauf zu schlafen“, sagt Schmied Viktor.

Neben den Reenactors werden auch Freiwillige für das Festival gewonnen. Etwa Hundert tragen dieses Jahr die Hauptlast bei der Vorbereitung, Organisation und Durchführung. „Freiwilligenarbeit ist ein Festival im Festival“, sagt Iwan Kulagin. Viele kommen schon seit Jahren zur Veranstaltung. Es gibt auch Familien, die auf dem Festival entstanden sind. Alle Freiwilligen erhalten freien Eintritt und Verpflegung. Ihr Zeitplan ist so gestaltet, dass die Arbeit etwa vier Stunden pro Tag in Anspruch nimmt und sie die restliche Zeit das Programm als vollwertige Teilnehmer genießen können.

Das Programm ist sehr umfangreich: Schaukämpfe, Turniere, zahlreiche Workshops zu alten Handwerken. Man kann zum Beispiel versuchen, eine Gabel zu schmieden, einen Becher zu formen, Birkenrindenarmbänder zu flechten oder eine Nadel aus Knochen herzustellen und vieles anderes. Man kann sich im Speerwerfen und Bogenschießen üben. Beeindruckend ist auch der Mittelaltermarkt mit seinen Holzbuden, in denen Händler ihre Waren lautstark anpreisen: Damaszener Schwerter oder Ritterrüstungen, Spielzeug und Souvenirs, Schmuck und Kleidung.

Bylinny Bereg
Eine Tour mit dem altrussischen Boot ist unvergesslich. (Foto: Telegram Bylinny Bereg)

Übrigens spielt Kleidung eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der Veranstaltungsatmosphäre. „Zelte, Geschirr, Essen, Kostüme – das gesamte Festivalleben ist eine möglichst genaue Kopie des Lebens unserer Vorfahren“, sagt Julia Slessaruk, eine Freiwillige. „Nach drei Tagen ist man so daran gewöhnt, Kettenhemden, altrussische Segelboote und Menschen in historischen Kostümen zu sehen, dass der erste Tag der Rückkehr in den Alltag mit einiger Verwunderung beim Anblick von Menschen in normaler Kleidung einhergeht.“

Während Festivalteilnehmer tragen können, was sie möchten, müssen Reenactors tatsächlich eine Kostümprüfung durchlaufen. Dafür wird im System ein Profil der Person erstellt, in dem Fotos des Kostüms hochgeladen werden. Das Kostüm muss der Epoche und der Rolle des Reenactors entsprechen. Viktor Malyschew erzählt: „Da ich ein einfacher Handwerker bin, ist mein Kostüm recht schlicht und entspricht meiner Position und der Epoche. Ich brauche weder Rüstung noch teure Gürtel.“ Es gibt spezielle Ateliers für historische Kleidung. Manche lassen sich ihr Kostüm anfertigen.  Das Festival „Bylinny Bereg“ zieht jährlich bis zu 15.000 Besucher an. Es finanziert sich selbst und konnte nicht nur Coronazeiten überleben, sondern auch sein Programm danach erweitern. Die Veranstalter unterstützen die lokale Bevölkerung durch Rabatte, manchmal kostenlosen Eintritt und günstige Teilnahmebedingungen für lokale Unternehmer. Traditionell fand „Bylinny Bereg“ im Gebiet Kimry in der Region Twer am Wolga­ufer statt. Dieses Jahr hat die Anti-Terror-Kommission des Gebiets Kimry das Festival dort aufgrund von Drohnenangriffen verboten. Die Organisatoren suchen aktiv nach einem neuen Veranstaltungsort, da bis zum Festival nur noch ein Monat Zeit ist.

Anna Braschnikowa

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