
Das Interview von Sergej Netschajew mit der Moderatorin Anne Will hat Anfang April in der deutschen Presse hohe Wellen geschlagen. Nicht nur, weil Will es „gewagt“ hat, den russischen Botschafter inmitten des Ukraine-Konflikts zu einem Gespräch einzuladen. Sondern auch, weil man in den Antworten Netschajews das rausgehört hat, was man offenbar hören wollte.
So versuchte die Journalistin, dem russischen Botschafter im Zusammenhang mit den in den letzten Jahren getrübten deutsch-russischen Beziehungen auf den Zahn zu fühlen. Nämlich, ob Russland sich nun als „Gegner“ und „Feind“ Deutschlands betrachte.
„Wir betrachten uns bis jetzt nicht im Kriegszustand mit [Europa].“ Das war die Äußerung von Netschajew, welche die meisten Medien unerhört und zugleich angsteinflößend fanden. Immerhin lässt sie viel Spielraum für Spekulationen. Neu oder unerwartet ist diese Tatsache eben, so gesehen, auch nicht. Denn die russische Regierung warnt die EU immer wieder davor, an der Eskalationsspirale im Ukraine-Konflikt zu drehen.
Weder „Gegner“ noch „Feind“
Bemerkenswert ist dabei der mediale Fokus, der sich ja wirklich verstärkt auf diesen Gedanken richtete. Einiges ist dem etwas aus dem Kontext gerissenen Satz aber vorausgegangen, was für die deutsche Öffentlichkeit womöglich einen höheren Stellenwert darstellen könnte. Insbesondere für diejenigen, die in irgendeiner Weise diplomatisch, wirtschaftlich, kulturell oder im Bildungsbereich mit Russland verbunden waren oder sind.
„Wir haben keine Brücken verbrannt. Wir haben kein einziges Abkommen, keine einzige Vereinbarung mit Deutschland gestrichen auf unsere Initiative“, erwiderte Netschajew gegenüber Will. Russland habe kein einziges deutsches Unternehmen ausgewiesen, die zahlreich auf dem russischen Markt gesessen hätten. In den besten Zeiten sind es laut dem Botschafter über 6000 Firmen gewesen. Kurz nach dem Will-Interview sprach Netschajew mit der „Berliner Zeitung“ darüber, dass immer noch „ein paar Tausend“ deutsche Unternehmen auf dem russischen Markt aktiv seien, die allesamt gute Zahlen schreiben würden.
Das zeigt einmal mehr, dass die Wirtschaftsbrücke in Krisenzeiten am stärksten hält. Die Frage ist, ob man daran interessiert ist, diese zu beschreiten.
Dabei fassten nicht nur kleine und mittlere Unternehmen sowie prominente Industriegiganten in Russland Fuß. Auch viele Kultureinrichtungen wie parteinahe Stiftungen oder Institute haben bis zuletzt ihre Tätigkeit in Russland fruchtbar betrieben und zwei Völker stärker zusammengebracht.
Kehrtwende in Beziehungen
Nach dem Februar 2022, seit Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine, haben aber Dutzende deutsche Unternehmen und Organisationen die Einstellung oder Aussetzung ihrer Aktivitäten in Russland angekündigt. Darunter Siemens, Bosch, Volkswagen, Einzelhändler wie Metro und OBI, Konsumgüterhersteller wie Henkel und Adidas und andere. Die Gründe für den Massenexodus der Firmen vom russischen Markt sind vielfältig.
Als erste zogen sich diejenigen zurück, für die es sich wegen des Ukraine-Konflikts aus moralischen Gründen als undenkbar erwiesen hat, ihre Tätigkeit in Russland fortzusetzen. Eine weitere Gruppe der Unternehmen konnte wegen strenger Beschränkungen für Technologieexporte, Schwierigkeiten mit grenzüberschreitenden Zahlungen und Logistik nicht umhin, ihre Projekte zu stoppen.
Importabhängige Unternehmen waren etwa wegen der unterbrochenen Lieferketten mit Rohstoffknappheit und steigenden Kosten konfrontiert. Hinzu kommt, dass die verhängte Sperrung von SWIFT-Transaktionen durch die EU die Abwicklung mit russischen Vertragspartnern erschwerte.
Knauf und Spekulation
Nicht zuletzt spielten auch der politische und mediale Druck auf die Firmen, die möglicherweise beabsichtigt haben, in Russland zu bleiben, eine Rolle. Ein Paradebespiel dafür ist der Skandal rund um den fränkischen Baustoffhersteller Knauf. Dieser hat nach dem Vorwurf, mit dem russischen Verteidigungsministerium zusammenzuarbeiten, beschlossen, sich komplett aus Russland zurückzuziehen und sein Geschäft zu verkaufen.
Ausgangspunkt waren Recherchen des ARD-Magazins Monitor, das Baustoffe der Firma beim Wiederaufbau der zerstörten Stadt Mariupol entdeckt hat. Da als Auftraggeber das russische Verteidigungsministerium agierte, sah die ARD eine direkte Verbindung darin und machte entsprechende Vorwürfe gegen die Firma publik.
Zwar wies Knauf all das zurück, denn es verkauft nur Baustoffe und kann alle Einsatzorte nicht im Blick behalten. Trotzdem erklärte das Unternehmen aber später, „vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen“ den russischen Markt verlassen zu wollen. Wie der Stand der Dinge zum heutigen Zeitpunkt genau aussieht, wird weder vom Unternehmen selbst noch von Medien berichtet.
Wandel durch Handel
Botschafter Netschajew machte gegenüber der Journalistin Will unter anderem deutlich: Russland habe für die deutsche Wirtschaft und für die anderen gegenseitigen Annäherungsprozesse alles Mögliche getan, damit es zu „dieser gutnachbarlichen Partnerschaft“ gekommen sei.
Russland hat tatsächlich kein deutsches Industrie-Unternehmen seit Februar 2022 außer Landes gedrängt. Ganz im Gegenteil, die deutschen Geschäfte waren und sind in Russland willkommen. Hinzu kommt die Tatsache, dass die russischen Behörden nach der Ankündigung von Firmen, Russland zu verlassen, eine Reihe von Maßnahmen ergriffen haben, um den Marktaustritt der ausländischen, darunter auch der deutschen Unternehmen zu erschweren oder zu verhindern.
Deutschland zeigte sich aber am „Business as usual“-Szenario zum Teil nicht interessiert. Ausgenommen jener Teil der Firmen, der es vorgezogen hat, doch in Russland zu bleiben. Das im Kalten Krieg entstandene Prinzip „Wandel durch Handel“ (bzw. „Wandel durch Annäherung“) schien somit ebenfalls in weite Ferne gerückt zu sein.
Wer ist unerwünscht?
Zu behaupten, Russland habe in keiner Weise zum Abbruch deutsch-russischer Brücken beigetragen, wäre allerdings auch weit hergeholt. Nach dem Ausbruch der Kampfhandlungen in der Ukraine begann das russische Justizministerium, verschiedene internationale Organisationen in die Liste sogenannter „unerwünschter Organisationen“ aufzunehmen, denen die Arbeit auf dem Territorium Russland untersagt wurde. Der Name impliziert, dass die Tätigkeit solcher Organisationen eine Gefahr für die Sicherheit Russlands darstellt.
In der Liste finden sich solche deutschen Kultureinrichtungen wie etwa die Heinrich-Böll-Stiftung*, das Zentrum für Osteuropa und internationale Studien*, die Friedrich-Ebert-Stiftung*, die Friedrich-Naumann-Stiftung*, das Deutsche Historische Institut Moskau (DHI)*, die Konrad-Adenauer-Stiftung* und die Hanns-Seidel-Stiftung* .
Die Zusammenarbeit mit den unerwünschten Organisationen in Russland wird strafrechtlich verfolgt. Ausländern, die an den Aktivitäten solcher Organisationen teilnehmen, ist die Einreise nach Russland verboten. Einige deutsche Bildungs- und Kultureinrichtungen führen im Land aber weiter ihre Tätigkeit fort.
Es gehören immer zwei dazu
Wie man so schön sagt, „es gehören immer zwei dazu“. Zumindest dort, wo es sich um das Aufrechterhalten von guten zwischenstaatlichen Beziehungen oder ihre Wiederherstellung handelt. Vor allem dort. Dass die deutsch-russischen Wirtschafts- und Kulturbrücken aktuell „zerstört“ oder „verbrannt“ sind, trifft nicht ganz zu. Dass sie seit Jahren am Bröckeln sind, aber schon.
Die Aussage Netschajews im Interview mit Anne Will, „wir haben keine Brücken verbrannt“, lässt zugleich die Hoffnung aufkommen, dass sich auch in den Zeiten der schweren Krisen beiderseits diejenigen finden werden, die diese, wenn auch wackeligen, Brücken nutzen wollen.
* in Russland als „unerwünschte Organisation“ eingestuft