
Covid macht Wladimir Auman noch immer das Leben schwer. Dreimal konnten die Ärzte das Schlimmste abwenden. Doch der heute 85-Jährige sieht seitdem schlecht, leidet an Diabetes und ist schwach auf den Beinen. Das ändert aber nichts daran, dass der Tisch in seiner Vierraumwohnung am südlichen Stadtrand von Moskau gedeckt ist, als er den MDZ-Redakteur zum Interview empfängt. Auman hat selbst in der Küche gestanden und Plow zubereitet, ein Reisgericht, das aus Zentralasien nach Russland eingewandert ist.
Wladimir Auman kennt sich mit der zentralasiatischen Küche aus. Sein halbes Leben hat er in Kasachstan verbracht, als dieses südliche Nachbarland noch zur Sowjetunion gehörte. Kasachstan ist ihm Heimat geworden, obwohl seine Familie 1941 ganz und gar nicht freiwillig dorthin umsiedeln musste. Auf Geheiß aus Moskau wurden alle Sowjetdeutschen aus ihren angestammten Gebieten hinter den Ural verbannt. So verschlug es Auman als „dreijährigen Faschisten“, wie er mit bitterer Ironie sagt, nach Nordkasachstan. Und die Aumans mussten noch einmal ganz von vorn anfangen, zumal sein Vater zur Arbeitsarmee eingezogen wurde.
Nach der Schule ließ sich Wladimir Auman in der Bezirkshauptstadt Kostanai zum Lehrer ausbilden, wurde Lektor im Parteiapparat, schrieb Reden für den ersten Sekretär der Bezirksparteileitung. Er arbeitete sich bis ins Zentralkomitee in Moskau hoch und hatte irgendwann ein Büro, von dem es nur wenige Schritte bis zu dem von Michail Gorbatschow waren, dem ersten Mann im Staate.
Nach der Auflösung der Sowjetunion leitete Auman lange Jahre das Bildungs- und Informationszentrum (BIZ) der Russlanddeutschen, das sich in einem historischen Landhaus unweit von Moskau befand. Finanziert mit deutschen Haushaltsgeldern, lernten hier Tausende Menschen in zwei- bis dreiwöchigen Kursen Deutsch und besuchten Seminare. Wenn sie Glück hatten, schaute auch Boris Rauschenbach mit seiner Frau Wera vorbei und sprach zu den Aktivisten, die aus ganz Russland kamen. Der renommierte Wissenschaftler, dessen Forschungen 1959 die ersten Aufnahmen von der Rückseite des Mondes zu verdanken waren und der sich als Weggefährte von Sergej Koroljow auch stark um die bemannte Raumfahrt verdient machte, war selbst ein hell leuchtender Stern, der mit seinem natürlichen Wesen und seinem breiten Wissen begeistern konnte. „Aber der Großteil unserer Russlanddeutschen kannte ihn gar nicht“, sagt Auman, der Rauschenbach einlud, so oft es ging, und ein enges Verhältnis zu ihm entwickelte.
Vor allem an russlanddeutsche Leser richtet sich nun auch das Buch, das Auman trotz angeschlagener Gesundheit und wie immer handschriftlich vollendet hat. „Boris Rauschenbach – ein russischer Deutscher“ heißt es und erzählt die erstaunliche Lebensgeschichte des Physikers nach: Geburt und Kindheit in St. Petersburg als Sohn eines Wolga- und einer Baltendeutschen, geniale Erfindungen, aber auch Schicksalsschläge wie der frühe Tod des Vaters oder die Zwangsverpflichtung zur Arbeitsarmee, die einer Lagerhaft gleichkam, Rauschenbachs vergeblicher Einsatz für die Wiederherstellung der 1941 abgeschafften deutschen Autonomie an der Wolga, sein späteres Interesse an der chinesischen Kultur sowie sein Weg zur Religion und zum russisch-orthodoxen Glauben. Die MDZ hat versucht, dem Autor noch einige Dinge zu entlocken, quasi zwischen den Zeilen.

Herr Auman, wie haben Sie Boris Rauschenbach persönlich erlebt?
Er war so einfach, einfacher ging‘s gar nicht. Und das trotz seiner ganzen Ehrentitel, seiner Auszeichnungen und Errungenschaften. Er war ein unabhängiger Geist, sehr klug, sehr mutig. Mit seiner Kritik an Gorbatschow und erst recht an Jelzin hielt er nicht hinter dem Berg. Bei uns im BIZ ist er regelrecht aufgeblüht, hat sich dort nach seinen Worten fast wie in Deutschland oder an der Wolga gefühlt. Und ist oft bis ein oder zwei Uhr nachts geblieben, um im Kaminsaal mit den Leuten in warmherziger Atmosphäre zu diskutieren.
Wo haben Sie sich kennengelernt?
Wir gehörten beide einer staatlichen Kommission zu Fragen der Russlanddeutschen an. Sie sollte Anfang der 1990er Jahre die Bedingungen für eine neue Wolga-Republik schaffen. Aber es zeigte sich schnell, dass es nur darum ging, auf die Bremse zu treten. Ich bin überzeugt, dass in der Führung von Partei und Staat niemand auch nur daran gedacht hat, für die Russlanddeutschen wieder eine Autonomie an der Wolga einzurichten. Rauschenbach hat anfangs wirklich daran geglaubt, dass diese Chance besteht. Er hat auch versucht, die führenden Köpfe der Russlanddeutschen auf einen gemeinsamen Kurs einzuschwören. Als jedoch immer deutlicher wurde, dass das Vorhaben scheitert, hat er sich Stück für Stück zurückgezogen.
Was hat es für Rauschenbach bedeutet, ein ethnischer Deutscher sein?
Er hat einmal gesagt: „Ich bin Deutscher, daran führt kein Weg vorbei.“ Wegen seiner Herkunft hat er gelitten wie alle Deutschen in Russland. Kam zur Arbeitsarmee, unterlag danach einem Melderegime. Später war er offiziell anerkannt: Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Held der Arbeit, ausgezeichnet mit dem Leninpreis. Aber das hieß nicht, dass man ihm besonders zugetan war. Er hat nur bekommen, was er auch verdiente. In seiner Geburtsstadt St. Petersburg ist nicht einmal eine Straße nach ihm benannt. Zumindest konnte eine Gedenktafel an seinem ehemaligen Wohnhaus in Moskau angebracht werden, aber das war schwierig genug.
Beigesetzt wurde Boris Rauschenbach nach orthodoxem Ritus. Wie kam es dazu?
Für ihn, der aus einem evangelischen Elternhaus stammte, war die orthodoxe Kirche näher an der Wahrheit, an den Ursprüngen des Christentums. Und so hat er sich im Alter sogar taufen lassen.
Wenn Rauschenbach etwas beschäftigte, dann hat er sich dermaßen in die Materie vertieft, dass andere nur staunen konnten. So war es auch mit der Religion. Ein Jahr vor dem 1000. Jahrestag der Taufe der Rus hat er 1987 im ZK-Journal „Kommunist“ einen Artikel dazu veröffentlicht. Dass sich überhaupt jemand an dieses Thema wagte und dann noch mit so viel Sachverstand, war eine echte Sensation. Der Autor hat nur mit größter Mühe ein Belegexemplar dieses Heftes bekommen. Die gesamte Auflage war in Windeseile vergriffen.
Das Interview führte Tino Künzel.
Buchauszüge: Ein Teddybär von der Wiege bis zum Grab
Als Kind hatte Boris kein Spielzeug, von einem gelb-braunen Teddy mit schwarzen Knopfaugen abgesehen. Mit den Jahren bekam dessen Fell immer mehr kahle Stellen. Aber Boris Viktorowitsch war sein Mischka so lieb und teuer, dass niemand sich daran vergriff. […] Der Talisman begleitete das spätere Akademiemitglied überall hin. 1937 nahm er ihn mit nach Moskau, auch bei den Starts von Weltraumflügen war der Glücksbringer dabei. Beim Begräbnis von Boris Viktorowitsch erfüllte Wera Michailowna die Bitte ihres Mannes und legte das geliebte Spielzeug mit in den Sarg.
Sein bester Freund im Lager, Paul Rickert, war Doktor an der Berliner Universität. Von ihm hat Boris Viktorowitsch die Sprache gelernt. Sie hatten sich gesagt: Wenn man uns schon eingesperrt hat, weil wir Deutsche sind, dann sprechen wir eben kein Wort Russisch. Und so redeten die beiden Freunde vier Jahre lang nur Deutsch. Rauschenbach konnte die Sprache, aber nur für den „Hausgebrauch“. Über Literatur und Wissenschaft auf Deutsch zu sprechen, das brachte ihm im Lager sein Freund aus Berlin bei.
Diese eigentümliche Sichtweise Rauschenbachs rührte aus den 1930er und 1940er Jahre, als im Land die Verhaftungen begannen. Warum und wieso, darüber machte sich Boris keine größeren Gedanken. Wie viele Sowjetbürger meinte auch er, dass im Land alles seine Ordnung hat. Wenn jemand eingesperrt wird, dann muss das seine Gründe haben. Sinnloser Massenterror kam ihm nicht in den Sinn. […] Er glaubte an Gerechtigkeit.
Sein Leben lang ließ er sich vom Prinzip leiten: Wenn es ihm dort langweilig wurde, wo er aktiv gearbeitet hatte, wenn der Neuigkeitseffekt verschwand, stieg er auf etwas anderes um. Als er sich bei Energija mit gewöhnlicher Ingenieursarbeit beschäftigen musste, suchte er sich eine neue Herausforderung und fing eine Lehrtätigkeit im Fistech an.
Nach eigenem Bekunden empfand er ein inneres Bedürfnis, Vorlesungen zu halten. Er liebte den Prozess des Unterrichtens, freute sich über jede Möglichkeit, sich zu äußern. Die Meinung eines Menschen, fand er, war unbedingt interessant für andere, es durfte nur nicht die Meinung eines Dilettanten sein. Seine erste Vorlesung hielt er vor Hausfrauen während des Krieges. Das Thema war „Wie man Buletten ohne Öl brät“.
Andere sahen Rauschenbach stets ruhig und gefasst. […] Das war keine Leidenschaftslosigkeit, sondern Selbstbeherrschung, die er wohl geerbt hatte. Sein Vater und seine Mutter hatten sich nie gestritten, das beeinflusste zweifellos seine Erziehung und half ihm später, in schwierigen Situationen kühlen Kopf zu bewahren.
Übersetzt von Tino Künzel