Blind für eine Stunde

Wenn die Lichter ausgehen, sind wir unserer Umwelt hilflos ausgeliefert. Dann wird der routinierte Gang zu einem tollpatschigen Herumtasten. In einem Moskauer Museum können Besucher die Welt der Blinden kennenlernen.

Schreiben und Lesen lernen: Blinde nutzen die Brailleschrift. /Foto: Tim Schmude.

Inmitten der Hochglanz-Luxusläden und glatten Katalog-Atmosphäre des Riviera-Einkaufszentrums bietet eine kleine Ausstellung einen kurzen Blick in das Leben blinder Menschen.
„Progulka w temnote“ – ein Spaziergang im Dunkeln.

An der Glasfront machen bunte Piktogramme auf sich aufmerksam: ein Ohr, eine Nase, eine Hand, die Botschaft ist klar – alle Sinne werden eingesetzt. Die Erlebnis-Ausstellung soll eine Vorstellung davon vermitteln, welchen Hürden Blinde in ihrem Alltag ausgesetzt sind. Die Tickets erhält man vorher online, oder vor Ort, dann vielleicht mit etwas Wartezeit. Bevor es losgeht, werden alle Wertgegenstände und Lichtquellen abgelegt, außerdem Rucksäcke und Handtaschen. Ein Führer begleitet einen durch dicke Vorhänge in die eigentlichen Räumlichkeiten. Die Besonderheit: Er ist blind, so wie alle Führer der Ausstellung.

An der Hand der nächsten stehenden Person durchschreitet man einen dunklen Vorraum. Hinter einer weiteren Tür umfängt einen dann die Schwärze. Kein einziger Lichtschein dringt in den Raum, die Dunkelheit ist dicht und samtig. Die Augen haben keinen Nutzen mehr. Im Gegenteil: Sie irritieren eher. Denn lässt man sie auf, projiziert der Kopf Wahrnehmungsfragmente wie auf eine Leinwand, schemenhafte Konturen und kurzes Farbflackern. „Bewegen Sie sich in der Ausstellung vorsichtig und mit ausgestreckten Armen“, rät einem kurz vorher noch ein Hinweiszettel. Den braucht es gar nicht, die Bewegungen werden ganz von selbst vorsichtig und zaghaft, ohne klares Ziel und Ende, als könne man mit jedem Schritt in einen Abgrund fallen oder gegen eine spitze Kante laufen. Türen zu durchlaufen wird zur ernstzunehmenden Schwierigkeit, ein Wohnzimmer zum obskuren Minenfeld.

Jeder der fünf unterschiedlichen Räume veranschaulicht eindrucksvoll, wie sehr wir uns im Alltag auf unsere Augen verlassen und wie furchtbar hilflos wir ohne sie sind. Vorankommen ist nur durch Tasten, Reden und Festhalten möglich. Sehr langsam dreht man so seine Runde durch die Ausstellung und, ohne zu viel vorwegzunehmen, eins sei verraten: Es kommen tatsächlich alle Sinne zum Zug. Beim Hinaustreten dauert es eine Weile, bis die Augen wieder ihre Arbeit aufnehmen. Zurück im Hellen wundert man sich fast, dass man ohne die Hilfe einer anderen Hand zurechtkommt.

Der Rundgang im Dunkeln ist lehrreich, jede Bewegung bleibt im Kopf. Wer möchte, hat die Möglichkeit, dem Führer Fragen über das Leben mit Blindheit zu stellen und kann sich anschließend am Lesen und Schreiben von Blindenschrift versuchen. Der Preis für den Ausflug liegt mit etwas über 1300 Rubel (rund 9 Euro) für zwei Personen in annehmbarer Höhe. Für Touren auf Englisch empfiehlt es sich, vorher nachzufragen, ob auch ein englischsprachiger Begleiter anwesend ist.

 

Das Museum: Progulka w Temnote

Von 10 Uhr bis 22 Uhr
Ul. Awtosawodskaja 18
Metro Awtosawodskaja
(495) 133 98 10
www.progulka-v-temnote.ru

Tim Schmude

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