Birchpunk: Fenster in Russlands Zukunft

Das Internet hat einen neuen Hit: Der YouTube-Kanal Birchpunk entwirft ein futuristisches Russland, in dem doch alles so ist wie zuvor, und gibt gleichermaßen Aufschluss über die postsowje­tische Gegenwart.

Bauer Nikolai zeigt eine Zukunft, in der Russland sich verändert, aber doch es selbst bleibt. (Foto: Screenshot/YouTube/Birchpunk)

Privyet from Russia. I am Nikolai, the farmer from Ryazan County“, stellt sich der Protagonist im ersten Video des YouTube-Kanals Birchpunk vor. Ein stereotyp in abgetragener Jacke und Schiebermütze gekleideter, bärtiger Mann mittleren Alters, neben ihm: eine Kuh, deren Flecken einen QR-Code bilden und ein ins Melken vertiefter, schon nicht mehr ganz neu wirkender Roboter, welcher der Kamera keine Aufmerksamkeit schenkt.

Tatsächlich hat Nikolai seine nahe Moskau gelegene Heimat Rjasan verlassen und als einer der wohl ersten Siedler eine Kolchose auf dem Mars gegründet. Nun ist er auf der Suche nach neuen menschlichen Mitarbeitern und führt potentielle Bewerber in einer Art Show-and-Tell-Video über seinen Hof. Stolz präsentiert er den raketenbetriebenen fliegenden Laster, der zwar nicht auf holprige Straßen angewiesen ist, aber zwecks Turbulenzen doch arg wackelt, zeigt ein Plumpsklo samt schwarzem Loch als Kanalisationsersatz, und stellt seinen mittlerweile zehn Millionen Zuschauern Glascha vor, die an­­droide Milchmagd, mit der ihn eine eher einseitige Liebesbeziehung verbindet. Die hat nämlich eher Augen für Nikolais Traktor.

Genres und Klischees werden vermischt

Der Name Birchpunk ist für das Projekt des Regisseurs Sergej Wasiljew programmatisch. Die futuristischen Settings reproduzieren in keiner Weise Hochglanz­utopien klassischer Science-Fiction-Werke, sondern entwerfen eine Welt, in der die hoch technologisierte Zukunft selbst bereits in die Jahre gekommen, heruntergewirtschaftet und kaum ernsthaft erstrebenswert wirkt.

Wasiljews Kurzfilme übernehmen diese klassischen Merkmale des zunehmend populären Cyberpunk-Genres und kombinieren sie mit Klischees der russischen und sowjetischen Kultur. So genügt der High-Tech-Ausbau der Marskolchose zwar, um „Fraktalgurken“ zu züchten und historische Gebäude, anstatt sie in elender Schweißarbeit zu restaurieren, einfach per Hologramm zu animieren.

Videos sind auch Bestandsaufnahme der Gegenwart

Ihre Fassaden sind wegen der schlechten Netzabdeckung aber nur verpixelt zu sehen. Ähnlich verhält es sich mit dem „Space Train“, dem Gegenstand des zweiten vollwertigen Kurzfilms des Projekts vom 16. April dieses Jahres. Auch wenn der klassische Platzkartenwaggon, ein immer wiederkehrender Topos der sowjetischen Kultur, nun interplanetar verkehrt, so sind die Probleme doch die gleichen geblieben. Hilfe von der Belegschaft kommt eher in geballter Form. Einen Platz in der Enge der Waggons zu ergattern, ist mitunter ein kleines Wunder und als weibliche Schaffnerin ist man stets den Avancen mitreisender Soldaten ausgesetzt.

Wasiljews humoriger Zukunftsentwurf ist jedoch auch eine ernsthafte Bestandsaufnahme der Gegenwart. Auf Vkontakte beschreibt er selbst die Agenda seiner Videos als das Öffnen von „Fenstern in die Zukunft Russlands“. Diese Zukunft ist aber ein „Retro-Futur“, also eine Zweitverwertung von Versatzstücken sowjetischer Utopien. Der Entwurf einer frischen Utopie scheint im Verwaltungsmodus des 21. Jahrhunderts kaum möglich. Hinzu kommt, dass der Rückbezug auf Kollektivierungsaufruf und Raumfahrtoptimismus nur in offensichtlicher ironischer Brechung funktioniert, aus der vor allem ein Bewusstsein für die Unmöglichkeit solcher Zukunftsträume spricht. Wenn neue Utopien Mangelware sind und das Beleben der alten nicht ernsthaft geschehen kann, bleibt für das Navigieren der gegenwärtigen Situation wohl nur das Recycling ihres Materials zum Witz. Der dafür aber hervorragend gut ist.

Thomas Fritz Maier

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