Angeklagte waren die Letzten, auf die sich die Regelung bisher nicht erstreckte. Doch diese Rechtslücke haben Staatsduma und Föderationsrat nun geschlossen. Anfang Oktober unterzeichnete Präsident Wladimir Putin zwei entsprechende Gesetze.
Damit kann sich, wer auch immer in die Mühlen der Justiz gerät, weiteren Ermittlungen, einem Prozess oder der Verbüßung einer Freiheitsstrafe entziehen, indem er sich freiwillig zur „militärischen Sonderoperation“ meldet und einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließt. Schon bisher galt das für Verdächtige, Untersuchungsgefangene und Häftlinge. Ab jetzt sind auch laufende Gerichtsverfahren nicht mehr davon ausgenommen.
Die Strafverfolgung wird in diesem Fall zunächst ausgesetzt oder eine wie auch immer lange Haftstrafe in Bewährung umgewandelt. Die Betroffenen werden zum zuständigen Wehramt gebracht und von dort einer Armeeeinheit zugeteilt, nach Medienberichten meist an vorderster Linie.
„SWO“ geht vor
Auf diese Weise werden zusätzliche Reserven für die „SWO“ mobilisiert. Andrej Kartapolow, der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in der Staatsduma, drückte das so aus: Die gesetzlichen Mechanismen erlaubten es, „den Bestand unserer Streitkräfte mit Soldaten auf Vertragsbasis zu erweitern, sowohl in der SWO als auch unter anderen Bedingungen“.
Ohne Kontroversen ging es bei der Verabschiedung der jüngsten Gesetze aber nicht ab. Renat Sulejmanow von den Kommunisten fragte, wie sie denn mit dem „Prinzip der Unabwendbarkeit der Bestrafung“ zu vereinbaren seien. Man schaffe damit ein legales Instrument, der Verantwortung für Straftaten zu entgehen, so der Abgeordnete. Man rekrutiere „Verbrecher“, „Kriminelle“, „marginale Elemente“, aus denen man dann eine Armee „konstruieren“ wolle.
„Keine Bande“
Kartapolow wies den Einwand zurück. Man gebe denen eine Chance, „die einen Fehler gemacht haben“, schließlich seien auch sie „Bürger unseres Landes“. Und er verwies darauf, dass man beileibe nicht jeden nehme und dürfte damit gewisse Ausnahmen von der Regelung gemeint haben. Nicht unter das Gesetz fallen Personen, die des Extremismus, Terrorismus, der Spionage, des Verrats von Staatsgeheimnissen oder sexueller Übergriffe gegen Minderjährige beschuldigt werden beziehungsweise deswegen verurteilt wurden.
Für Kartapolow ist das der Beleg, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt. „Die russische Armee ist keine Bande, das sind unsere Streitkräfte, die den langersehnten Sieg in der militärischen Sonderoperation erringen“, rief er unter dem Applaus des Saals.
Kartapolows Fraktionskollegin von „Einiges Russland“ Irina Pankina erinnerte kühl daran, dass ein Vertrag mit der Armee noch keinen Straferlass bedeute. Das Gesetz nennt dafür Bedingungen: Der Unterzeichner muss etwa eine staatliche Auszeichnung erhalten haben. Ebenfalls straffrei geht aus, wer aus Alters- oder gesundheitlichen Gründen, wegen Beendigung der Mobilmachung oder der Aufhebung des Kriegszustands aus der Armee entlassen wird. Im Regelfall also werden die Freiwilligen bis zum Ende der „SWO“ kämpfen müssen, sollten sie bis dahin überleben.
Von „Wagner“ eingeführt
Die Praxis, Häftlinge als Nachschub für die „Sonderoperation“ anzuwerben, hatte ab dem Sommer 2022 zunächst durch die „Wagner-Gruppe“ und ihren damaligen Chef Jewgeni Prigoschin Schule gemacht. Der trat persönlich vor russischen Lagerinsassen auf und sagte ihnen zu, dass sie auf freien Fuß kämen, wenn sie ein halbes Jahr an vorderster Front durchhielten. Auch wenn viele ihre Freilassung nicht erlebten, gab es doch immer wieder verurteilte Straftäter und teils Schwerverbrecher, die von der „SWO“ nach Hause zurückkehrten, ohne zumindest einen größeren Teil ihrer Strafe verbüßt zu haben. Prigoschin sagte einmal, man habe 50.000 Häftlinge nach diesem Schema als Soldaten hinzugewinnen können.
Seit Februar 2023 erfolgt diese Art der Anwerbung nur noch durch offizielle Stellen des russischen Militärs. Von der jetzigen Gesetzeslage erhofft man sich dort nach Medienberichten wiederum mehrere zehntausend Vertragsunterschriften. Nach einem halben Jahr ist für diese Freiwilligen nichts vorbei. Außer ihrem engsten Umfeld dürfte sich das auch niemand wünschen.
Tino Künzel