Alte Gleise, neue Ausblicke: Moskau besichtigen mit der Straßenbahn

Vor 125 Jahren, am 6. April 1899, wurde in Moskau die erste Straßenbahnlinie eröffnet. Heute gibt es derer 35. Welche empfehlen sich besonders für eine etwas andere Stadtrundfahrt?

Hier lohnt sich der Fensterplatz: Moskauer Straßenbahn und ein „Zuckerbäckerbau“ am Moskwa-Ufer. (Foto: Tino Künzel)

Die Straßenbahn kann Moskauer unter Umständen den Kopf kosten, wie man seit „Der Meister und Margarita“ weiß. Doch die berühmte Enthauptung an den Patriarchenteichen spricht natürlich überhaupt nicht gegen die Tramwaj, wie sie auf Russisch heißt. Die hat sich auch eher darauf spezialisiert, Köpfe zu verdrehen, so eine gute Figur, wie sie in letzter Zeit macht.

Dem Schattendasein der postsowjetischen Jahrzehnte ist die Moskauer Straßenbahn jedenfalls glücklich entronnen. Damals wäre sie nämlich selbst fast unter die Räder geraten. Mit altersschwacher Fahrzeugtechnik und einem ebenso sanierungsbedürftigen Gleisbett war sie höchstens noch etwas für Fans. Im Alltag ließ sich noch vor wenigen Jahren kein Staat mit ihr machen.

Doch seit 2017 wurden nach Angaben der Stadt mehr als 500 neue Straßenbahnwagen in Dienst gestellt. Heute bezeichnet sich Moskau als Europameister bei der Modernisierung des Fahrzeugparks. Der bestehe inzwischen bereits zu 95 Prozent aus Wagen in Niederflurbauweise, heißt es. Der weitaus größte Teil sind dabei Gelenkwagen vom Typ Witjas-M und dem kleineren Lwjonok, beide produziert im St. Petersburger Newski-Werk für Elektrotransport. In beiden rollt es sich sehr kommod durch die Stadt. Besonders beliebt sind die beiden Sitzplätze ganz im „Heck“, wo man sogar im Feierabendverkehr so etwas wie Privatsphäre genießt.

So sieht die Witjas-M-Bahn von innen aus. (Foto: Tino Künzel)

Kritiker werfen der Stadt allerdings vor, die Gleiserneuerung sträflich vernachlässigt zu haben. Das führt unter anderem dazu, dass viele Weichen noch immer manuell mit einer Eisenstange umgelegt werden müssen. Außerdem sei in den zurückliegenden 40 Jahren das Netz kaum ausgebaut worden, schimpfen Aktivisten im Internet. Deshalb würden Straßenbahnen oft vom übrigen Verkehr ausgebremst. Die mittlere Geschwindigkeit liege bei schwachen 25 bis 27 Kilometer pro Stunde.

Von einer Sightseeing-Warte betrachtet, ist dieser letzte Punkt zu vernachlässigen. Man sollte es ja sowieso nicht eilig haben, wenn man vor den getönten Panoramafenstern die Stadt an sich vorbeidefilieren lässt. Das ist in jedem Fall eine reizvolle Art, Moskau zu erkunden und auf einen Schlag mehrere Stadtbezirke zu besichtigen. Einzelne Stellen können dabei ja vorgemerkt werden, um sich dort später gründlicher umzusehen.

Das Moskauer Straßenbahnnetz beläuft sich auf 183,1 Kilometer und deckt zwar längst nicht die gesamte Stadt ab, aber doch größere Teile. Nach offiziellen Angaben wuchsen die Fahrgastzahlen bei diesem Verkehrsmittel im vergangenen Jahr besonders stark. Vielleicht ist es deshalb nicht die beste Idee, ausgerechnet in der Rush Hour auf Ausflugstour zu gehen.

Speziell in der Innenstadt ist das Straßenbahnnetz relativ dicht. (Foto: Tino Künzel)

Doch welche Linien taugen überhaupt am besten dazu, möglichst vielfältige Eindrücke zu gewinnen? Die folgenden fünf gehören garantiert zu den Favoriten.

Linie 7

Kaum am Belorussischen Bahnhof gestartet, möchte man schon einen Zwischenstopp einlegen. Denn aus einem denkmalgeschützten ehemaligen Straßenbahn- und Busdepot in der Lessnaja-Straße wurde vor ein paar Jahren ein Gastronomietempel mit 75 Ständen und Bauernmarkt auf 20.000 Quadratmetern. Die „FoodMall Depo“ soll die größte ihrer Art in Europa sein.

Die Linie 7 führt nördlich um das Stadtzentrum herum und quert dabei traditionsreiche Viertel. Vorbei geht es am Dostojewski-Museum, das sich in einem alten Krankenhaus-Flügel befindet. Zum Jüdischen Museum und zum Gulag-Museum ist es von den nächstgelegenen Haltestellen jeweils nur ein kurzer Fußweg. Weitere Highlights sind die Olympiahalle von den Olympischen Spielen 1980, die gerade runderneuert wird, die Zentralmoschee und der Prospekt Mira. Nach dem Komsomolskaja-Platz mit dem Leningrader, Jaroslawler und Kasaner Bahnhof geht die Fahrt weiter Richtung nordwestlicher Stadtrand.

Zwei mit interessanten Formen: Straßenbahn der Linie 7 vor dem berühmten Russakow-Kulturhaus, gebaut 1929 nach Entwürfen von Konstantin Melnikow (Foto: Tino Künzel)

Linie A

Moskaus einzige Straßenbahnlinie, die mit einem Buchstaben bezeichnet ist. Vom Volksmund als „Annuschka“ gehätschelt. Verkehrte ab 1911 auf dem Boulevard-Ring. Davon ist heute nur ein Teilstück von der Metrostation Tschistyje Prudy zum Ufer der Moskwa übriggeblieben, wo das Hochhaus an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße, eine der sieben „Stalin-Schwestern“, die Dominante bildet. Aber Moskau ist in der Geschichte der „Annuschka“ ja auch stark gewachsen, und so geht die Straßenbahn förmlich auf große Fahrt, nachdem sie den Boulevard-Ring verlassen hat. Gleich zweimal überquert sie die Moskwa, nimmt sich viel Zeit für das Altstadtviertel Samoskworetschje und hält unter anderem am Pawelezer Bahnhof. Sehenswürdigkeiten am Wegesrand sind zudem das Nowospasski- und das Pokrowski-Kloster.

Linie 25

Grüner wird‘s nicht. Die Linie 25 beginnt am Haupteingang zum Park Sokolniki und streift auf ihrer Fahrt dessen Ostflanke. Das reicht, um sich wie im Wald zu fühlen. In der warmen Jahreszeit sind die Gleise hier „überdacht“ von uralten Eichen- und Lindenbäumen: Dieser „Tunnelblick“ ist das wohl beliebteste Fotomotiv der Moskauer Straßenbahn überhaupt. Die Tour führt zum Messegelände WDNCh und zum Fernsehturm in Ostankino.

Linie 17

Dies ist eine wahre Expedition, die erst an der Polarstraße endet. Ganz so weit nach Norden, wie es klingt, geht es dann zwar nicht. Doch von Ostankino bringt die Linie 17 ihre Passagiere bis an den nördlichen Stadtrand von Moskau. Von der Endhaltestelle in der Nähe eines Globus-Hypermarktes ist es nur noch ein kleines Stück bis zur Ringautobahn, die früher einmal als inoffizielle Stadtgrenze galt. Reisegruppen verirren sich nicht in diese Gegend, doch Neugierige kommen auf ihre Kosten. Denn die hiesigen Stadtbezirke Babuschkin und Medwedkowo sind beispielhaft dafür, wie Moskau in den 1960er bis 1980er Jahren in die Breite gegangen ist. Vom sowjetischen Wohnungsbau kann man sich vor Ort ein gutes Bild machen. Unterwegs sorgen aber auch die Arbeiter-und-Kolchosbäuerin-Statue und das Rostokino-Aquädukt für visuelle Höhepunkte.

An der Endhaltestelle der Linie 17 in Medwedkowo (Foto: Tino Künzel)

Linie 39

Eine der längsten Straßenbahnlinien von Moskau startet an der Metrostation Tschistyje Prudy. Auf ihrem Weg zur Metrostation Universität, womit die Lomonossow-Universität auf den Sperlingsbergen gemeint ist, kommt sie am Danilow- und am Donskoi-Kloster vorbei. Sehenswert ist aber auch vieles andere, wie etwa die Danilow-Markthalle, die als Trendsetter bei der Umwandlung sowjetischer Märkte in neumodische (und vergleichsweise teure) Esslokalitäten für die Mittelschicht gilt.

Eine Bahn der Linie 39 bei der Auffahrt auf die Große Ustinski-Brücke über die Moskwa (Foto: Tino Künzel)

Eine Fahrt mit der Straßenbahn kostet in Moskau mit der Troika-Verkehrskarte 54 Rubel. Das sind umgerechnet etwa 50 Cent.

Tino Künzel

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