Als die rote Welle kam

Sie kam als Touristin und blieb als Bewunderin der Leningrader Rockszene: Die amerikanische Musikerin und Produzentin Joanna Stingray war die wichtigste Förderin sowjetischer Rockmusik im Westen. Jetzt hat sie ihre Erinnerungen veröffentlicht.

Joanna Stingray mit Rocker Boris Grebenschtschikow im früheren Leningrad. /Foto: livejournal.com

Nach vier Tagen hatte Joanna Stingray genug. Die mürrisch dreinschauenden Menschenmassen, die unendlich erscheinenden Betonwüsten jenseits der dreckigen Scheiben des alten Ikarus-Busses und der gelangweilte Fremdenführer, der emotionslos seine trockenen Texte über sozialistische Heldendenkmäler abspulte: Die Sowjetunion im Frühjahr 1984 wirkte auf die amerikanische Touristin einfach nur trübsinnig. „Das ist der Ort, an den ich nie wieder zurückkehren möchte“, ärgerte sich die damals 24-Jährige und entschied: „Jetzt reicht’s“.

Ein Zettel als Ticket in eine unbekannte Welt

Kaum in ihrem Hotel im damaligen Leningrad angekommen, täuschte die genervte Reisende Unwohlsein vor und meldete sich vom nächsten Gruppenausflug ab. Aufgeregt kramte sie in ihrem Zimmer den Zettel mit der Nummer hervor, die ein russischer Bekannter ihr kurz vor dem Abflug noch hingekritzelt hatte. „Du musst unbedingt meinen Freund kennenlernen“, hatte dieser geraten. „Er ist unglaublich cool und der Star des russischen Rock-Undergrounds!“

Stingray, die sich in den USA als Punkmusikerin versucht hatte, war neugierig. Zwei Anrufe, ein konspiratives Treffen an einer Metrostation und eine Bahnfahrt später war es so weit: Die Amerikanerin saß in einer Küche mit dem ihr völlig unbekannten Boris Grebenschtschikow . Der legendäre Rocker und Halbgott der Leningrader Rock-Boheme stellte Kekse auf den Tisch, goss bernsteinfarbenen Tee in die Tassen – und schaltete schließlich eine Kassette mit seinen Liedern an. „Von den ersten Akkorden an ergriff mich die bezaubernde Spiritualität dieser Musik“, erinnert sich Stingray Die eben noch so graue Sowjetunion gewann mit einem Mal schlagartig an Farbe. „Das war der Moment, der mein Leben verändert hat!“

Eine Amerikanerin entdeckt den Sowjetrock

Was damals noch niemand ahnte: Die schicksalhafte Begegnung, welche die heute 58-Jährige in ihrem gerade auf Russisch erschienenen Erinnerungsbuch „Stingray in Wonderland“ eindringlich beschreibt, sollte Folgen für die gesamte Leningrader Rockszene haben. Denn in den kommenden Jahren wurde Stingray zur wichtigsten Produzentin, Managerin und Förderin des sowjetischen Rocks im Westen.

Die unerschrockene Enthusiastin, die anfangs kein einziges Wort Russisch sprach, pendelte über zehn Jahre lang zwischen Russland und den USA, schmuggelte Demotapes und Aufnahmen über die Grenze, und brachte den Rockern begehrte Instrumente und Modeaccessoires aus der Welt jenseits des Eisernen Vorhangs mit.

Joanna Stingray mit den Musikern der bekannten Band „Kino“. /Foto: muzvinegret.ucoz.ru

David Bowie spendiert eine rote E-Gitarre

Ich bin Boris Grebenschtschikow unglaublich dankbar“, schreibt Jo­anna Stingray im Vorwort über diese aufregende Zeit. „Er hat mir in meiner naiven Jugend ein Ziel im Leben gegeben.“ Doch zunächst ging es für die angefixte Musiknärrin wieder zurück in die USA. „Mein Flugzeug war noch nicht in Los Angeles gelandet, da fing ich schon an Pläne für meine Rückkehr in die Sowjetunion zu schmieden“, erinnert sie sich. Doch das war einfacher gesagt als getan. Bis zur Perestroika sollte es noch ein ganzes Jahr dauern, sich einfach in den nächsten Flieger nach Moskau zu setzen, war unmöglich. Also heuerte Stingray in einem Reisebüro an, sparte für den nächsten Trip und saugte alle Informationen über die Sowjetunion auf.

Vier Monate später war es dann so weit. Als Teilnehmerin einer Bildungsreise bestieg Stingray mit einer knallroten Fender Stratocaster-E-Gitarre, die der britische Glam-Rocker Dawid Bowie spendiert hatte, das Flugzeug nach Moskau. Als sie mit dem teuren Instrument bei Boris Grebenschtschikow aufkreuzte, traute dieser seinen Augen nicht. „Ich hatte dich eigentlich gar nicht im Ernst darum gebeten“, wandte der beeindruckte Rocker ein, der sich die Gitarre im Scherz gewünscht hatte. Immer wieder hatten zuvor Besucher aus dem Westen Hilfe und Unterstützung versprochen. Doch nur Joanna Stingray hielt Wort und kam immer wieder – die nächsten zwölf Jahre.

Unerschrocken trotz Festnahme

Auch eine Festnahme nach einem Konzert konnte ihren Enthusiasmus nicht brechen. Die unerschrockene Musikerin verweigerte die Aussage, lieferte keinen der Rocker ans Messer und nannte nicht mal ihren Namen. „Ich bin Amerikanerin. Wenn Sie wissen wollen, wie ich heiße, rufen Sie doch im Konsulat an“, ärgerte sie ihre Verhörer. Die Beamten waren verärgert, wollten aber keinen diplomatischen Zwischenfall provozieren – und ließen die widerborstige junge Frau ziehen.

Wieder in Freiheit machte Stingray da weiter, wo sie aufgehört hatte. Sie besuchte zahlreiche Konzerte, fotografierte und filmte die aufstrebenden Stars der Szene. Die so entstandenen Clips sowie Demotapes und Texte schmuggelte sie in den Absätzen ihrer Schuhe oder im Mantel eingenäht durch den sowjetischen Zoll. Die Mitschnitte zeigte sie an amerikanischen Schulen, später sorgten die Aufnahmen beim Musiksender MTV für Furore. Außerdem versorgte die Promoterin Rocker wie Kino-Sänger Viktor Zoj mit den bei den Künstlern äußerst beliebten Converse-Turnschuhen, T-Shirts aber auch Mixpulten, Keyboards und anderem in der Sowjetunion raren Equipment.

Heute lebt Joanna Stingray in Los Angeles und arbeitet an ihren Memoiren. /Foto: joannastingray.com

Die rote Welle schwappt in den Westen

Für ihre größte Leistung hält Joanna Stingray jedoch bis heute die Veröffentlichung von „Red Wave: 4 Underground Bands from the Soviet Union“. Das Doppelalbum, auf dem mehrere Songs von den Leningrader Bands Aquarium, Kino, Alisa und Strannye Igry zusammengestellt waren, erschien im Jahr 1986 auf dem kalifornischen Label „Big Time Records“ und sorgte für eine Welle des Interesses an den heißen Rhythmen aus dem tiefen Osten. Es war der erste Tonträger mit sowjetischer Rockmusik in den USA überhaupt. Joanna Stingray schickte sogar Generalsekretär Michail Gorbatschow ein Exem­plar des Rock-Albums. „Wenn diese Bands im Westen veröffentlicht werden können“, soll dieser sich nach dem Hören gewundert haben, „warum dann nicht bei uns?“ Noch im selben Jahr durften die Bands ihre Alben auf dem staatlichen Label „Melodija“ veröffentlichen.

Auch in ihrem Privatleben hinterließ die Begegnung mit der sowjetischen Rockszene Spuren: 1987 heiratete Joanna Stingray trotz großer bürokratischer Hürden Juri Kasparjan, den Gitarrist der legendären Band „Kino“. Allerdings war die Verbindung nur von kurzer Dauer. Nach der Scheidung Anfang der 90er ehelichte sie den Schlagzeuger Alexander Wassiljew der Band „Zentrum“. Bis 1996 arbeitete Stingray in der russischen Hauptstadt als Musikerin, Schauspielerin und Moderatorin. Heute lebt die Rockerin wieder in ihrer Geburtsstadt Los Angeles und arbeitet an ihren Memoiren. Der zweite Band soll im September erscheinen.

Birger Schütz

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