Alla und Alexej auf den Spuren der alten Griechen

Die kleine Mittelmeerinsel Gavdos in Griechenland ist wie gemacht dafür, über Gott und die Welt zu philosophieren. Ein halbes Dutzend Wissenschaftler, „die Russen“, wie sie von Einheimischen genannt werden, tut genau das. In den 1990er Jahren hat sich die Gruppe hierher zurückgezogen, um in der Abgeschiedenheit von Europas südlichstem Landstrich zu tieferen Einsichten zu gelangen. Der Dresdner Heiko Thomas war diesen Sommer bei Alla und Alexej zu Gast und hat sie für die MDZ interviewt.

Ursprünglich und fast menschenleer: Gavdos ist ein guter Ort, um in sich zu gehen. (Foto: Privat)

Ein Interview? Die Einheimischen machten Heiko Thomas wenig Hoffnung, dass die verrückten Wissenschaftler auf Gavdos mit ihm reden würden. Der Unternehmer aus Dresden hatte während eines Wanderurlaubs auf Kreta von der Gruppe gehört und war mit der Fähre zu der 30 Quadratkilometer großen Insel übergesetzt, die nur ein paar Dutzend ständige Einwohner hat.

Hier, an der Wiege der europäischen Zivilisation, haben sich vor über 20 Jahren einige Aussteiger aus dem Wissenschaftsbetrieb niedergelassen, um in der Reduktion auf das Wesentliche Antworten auf große Menschheitsfragen zu suchen, die sich in Labors und im Großstadtalltag nicht finden ließen. Dazu gründeten die Forscher aus Russland und anderen Ländern sogar eine eigene Einrichtung, das „Pythagoras-Institut für Philosophische Studien zur Unsterblichkeit des Menschen“. Und trotz aller Abgelegenheit stehen sie mit Kollegen aus aller Welt in Verbindung.

Thomas wollte diesen Sommer eigentlich in Russland verbringen, das ihm sehr am Herzen liegt. Er hatte sich für die Ladoga Trophy 2020 angemeldet, ein traditionsreiches Off-Road-Rennen rund um den Ladoga-See. Doch die Teilnahme war in Pandemie-Zeiten unrealistisch, später musste die auch international bedeutende Veranstaltung ganz abgesagt werden. Russisch sprechen konnte Thomas indes nun auch am geografisch südlichen Rand von Europa in Griechenland, keine 300 Kilometer von der Küste Afrikas entfernt. Mit Konfitüre, Backwaren und Tee ausgerüstet, stattete er der Kommune einen Besuch ab und wurde von Alla und Alexej freundlich empfangen. Das Gespräch auf der Terrasse des selbst erbauten Hauses mit Blick auf das Libysche Meer dauerte sechs Stunden. Dabei sprachen die Physikerin aus Charkow in der Ukraine und der Physiker und Raumfahrtexperte aus Moskau unter anderem …

… darüber, was sie nach Gavdos verschlagen hat.

Wir suchten einen Platz, eine Insel, wo jeder jeden kennt. Die Suche dauerte einige Jahre. Irgendwann erreichten wir, eine bunte Gruppe von Wissenschaftlern, Paleochora an der Südküste von Kreta. Von dort aus sahen wir Umrisse einer noch südlicher gelegenen Insel. Wir fragten und die Leute erzählten uns bereitwillig von Gavdos. So fanden wir unseren abgelegenen Lebensmittelpunkt. Wir betreiben hier Philosophie nach den Vorbildern des Gelehrten Pythagoras. Das verstehen wir als Lebensart, nicht als Buchtheorie. Die Bäume, das Wetter, das Meer, der Wind – es gilt herauszufinden, was welche Wirkung entfaltet. Ähnliche Standorte unserer Gruppe gibt es in Georgien, Venezuela und Russland.

Zwei Sehenswürdigkeiten der Insel: ein übermannsgroßer Stuhl und die Wissenschaftlerin Alla (Foto: Privat)

… darüber, ob sie Eremiten oder ins Leben der Inselbewohner integriert sind.

Wir sind integriert, so gut dies möglich ist. Jeder hilft jedem. Wir reparieren Autos und Boote, bauen Häuser. Ersatzteile werden per Internet bestellt und mit dem Boot geliefert. Ansonsten muss man hier viel improvisieren, das können wir. Als Gegenleistung gibt es Olivenöl, Fisch, Obst oder auch Raki. Die großen Feste verbringen wir immer gemeinsam mit den Leuten. (Während des Gesprächs mit Heiko Thomas kommt Papa Menoli, der Priester der Insel, vorbei, weil er Hilfe mit seinem Auto braucht.)

… über ihre Griechischkenntnisse.

Die sind ganz gut. Anfangs haben wir mit Schulungsmaterialien gelernt, später vor allem durch das tägliche Sprechen mit den Einwohnern.

… darüber, was es mit dem von der Gruppe errichteten Kunstwerk am Kap Tripiti, dem südlichsten Punkt Europas, auf sich hat, einem meterhohen hölzernen Stuhl, der im Fels verankert ist.

Sitzt du auf dem Stuhl, ist dein Blick Richtung Europa gerichtet, auf deinen Weg, auf dein Leben. Dein Geist soll sich weiten, du sollst einen Überblick bekommen über alles, was dich bewegt oder dir missfällt. Den Rest muss jeder mit sich selbst ausmachen.

… über die Probleme moderner Gesellschaften.

Wir sind der Meinung, dass weniger Quantität oft mehr Qualität bedeutet. Ein Beispiel. Bei uns hier auf Gavdos werden alle wichtigen Entscheidungen am Tisch getroffen. Man sitzt zusammen, berät und hat am Ende ein Ergebnis, einen Beschluss, den jeder mitträgt. Keine Schauspielereien oder Taschenspielertricks. In Russland gibt es diese Art Hochhäuser, wo du deinen Nachbarn nicht kennst. So können keine qualitativ hochwertigen Entscheidungen getroffen werden.

… darüber, wie sie Kontakt zur Außenwelt halten.

Per Mobiltelefon, WLAN, Computer, Skype, wie es heutzutage üblich ist. Wir betreiben auch eine eigene Website. Aus dem Internet laden wir klassische Musik, Filme und Reparaturanleitungen herunter. Wir nehmen an Kongressen teil und sind im regen Austausch mit Kollegen und Freunden weltweit.

Hier hat die Forschergruppe wieder einmal Gäste. (Foto: Privat)

… darüber, ob die minimalistische Lebensweise der Menschen am Mittelmeer vielleicht das Geheimrezept für ein langes und glück­liches Leben ist.

Sie ist auf jeden Fall ein wichtiger Baustein dafür.

… darüber, ob die Welt die richtigen Lehren aus dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 gezogen hat.

Nur teilweise. Die alternativen Energien sind bestenfalls geeignet, private Haushalte zu versorgen. Für den industriellen Bedarf reichen sie nicht aus, zumal Schwellenländer nach westlichem Niveau streben. Der weltweite Energiebedarf steigt somit stetig. Es müsste wieder eine länderübergreifende, inten­sive Forschung auf dem Gebiet der sicheren Atomenergie geben. Aber momentan sind die Interessen einzelner Länder wichtiger als Lösungen für den gesamten Planeten. Deshalb bleiben auch kriegerisch ausgetragene Verteilungskämpfe unausweichlich.

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