Abkehr vom Westen?

Der Kreml hat im Juli eine neue Nationale Sicherheitsstrategie verabschiedet, die für viel Gesprächsstoff sorgt. Gegenüber dem Westen werden darin offen kritische Töne angeschlagen, von einem Wunsch unfreundlicher Länder nach Destabilisierung und einem „Schutz der russischen Gesellschaft vor destruktiven Informationen“ ist die Rede. Dieser wird eine Rückbesinnung Russlands auf eigene Werte entgegengestellt, zu denen eine traditionelle Familie, Kollektivismus und Patriotismus gehören. Was bedeutet das für die russische Außenpolitik?

Dmitrij Trenin
Der Politologe Dmitri Trenin ist seit 2008 Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums. Er ist Autor zahlreicher Fachbücher zu den internationalen Beziehungen Russlands, die auch in Übersetzungen im Ausland erschienen. (Foto: russiancouncil.ru)

Russland hat sich bisher immer mit einem pragma­tischen Ansatz dem „Werte“-Ansatz des Westens in der internationalen Politik widersetzt und sich als Kämpfer für Gerechtigkeit abseits von Ideologie profiliert. Jetzt ist in der neuen Strategie viel von russischen Werten die Rede. Ist das das Ende des Pragmatismus?

Die pragmatische Periode der russischen Außenpolitik war Teil einer Politik zur Integration in die westliche Welt zu Bedingungen, die für Moskau annehmbar waren. Diese Integration stellte sich als unmöglich heraus. Deswegen hat die rus­sische Führung seit Mitte der 2010er Jahre eine Wende vollzogen: Weg von der Westintegration hin zur Anerkennung Russlands als autarkem System. Diese Neudefinition erfordert eigene Werte, Prinzipien und Normen, sozusagen die Bildung einer russischen Zivilisation. Ohne so eine Konstruktion kann sich das Land und die Gesellschaft nicht stabil entwickeln. Deswegen die Stärkung dieser Werte. Es ist aber gar nicht klar, wie ernst dieser Wertebereich der neuen Sicherheitsstrategie ist. Selbst wenn einzelne Anführer an der Spitze davon durchdrungen sind, bleibt die Elite überwiegend eher zynisch und egoistisch. Das Wichtigste ist für sie ihr eigener, persönlicher Gewinn.

Schwindet durch diesen neuen wertebasierten Ansatz die Bedeutung wichtiger internationaler Vereinigungen wie dem UNO-Sicherheitsrat, wo Russland neben China und den Westmächten Mitglied ist?

Hier wird Moskau mit Peking zuallererst für die Demokratisierung des Systems kämpfen, gegen die Reste der globalen Hegemonie der USA und des Westens, die liberale Werte ihrer Version fördern möchten. Wenn hier Vereinbarungen zwischen Russland und der USA/EU möglich sind, dann nur pragmatisch auf Basis nationaler Interessen.

Sind die Werte im Westen und Russland nur verschieden oder unterscheiden sie sich auch hinsichtlich ihrer Funktion?

Für den Westen liegt sein Wert auf der finanziellen und ideologischen Dominanz. Für Russland mehr auf einer politischen und regionalen Vorherrschaft. Wo westliche Kollegen heuchlerisch sind, sind russische zynisch. Das Verhältnis von sozialökonomischen und poli­tischen Rechten hat sich in den letzten 30–40 Jahren in Russland zu Gunsten der ersteren verschoben. Nur die wohlhabende Intelligenz konzentriert sich noch auf Menschenrechte und politische Freiheiten.

Werden sich unter dem Dach dieser Werte andere Staaten Russland anschließen? Teilen andere Länder im eurasischen Raum die neuen außenpolitischen Grundsätze Russlands?

Die Werte, die aktuell von der russischen Führung proklamiert werden, sind für Russland selbst gedacht. Sie können von anderen Staaten geteilt werden, die einen vom Westen außenpolitisch unabhängigen Kurs verfolgen. Anders als die UdSSR strebt die Russische Föderation noch nicht danach, auf der Weltbühne einen eigenen Block zu bilden. Es gibt weder den Wunsch noch Ressourcen dafür. Die Staaten Eurasiens manövrieren mehr oder weniger erfolgreich zwischen dem Westen, China, Russland und Regionalmächten wie der Türkei. Für manche ist der Spielraum in der Praxis sehr begrenzt. Etwa Armenien oder Belarus sind von Russland abhängiger, als es ihren Eliten lieb ist.

Wie wirkt diese neue Strategie nach innen, etwa der Widerstand gegen ausländische Einmischung in innere Angelegenheiten? Ist diese Bedrohung real?

Die neue Strategie ist zu Recht weitgehend nach innen gerichtet. Die Entwicklung, Sicherheit, ja die Existenz Russlands im 21. Jahrhundert hängt vor allem von Vorgängen im Landesinneren ab. Die wirtschaftliche, technologische und gesellschaftliche Entwicklung und die Moral der Eliten sind die wichtigsten Faktoren. Sie werden in der Strategie zu Recht betont. Bei der ausländischen Einmischung durchleben die russischen Führer das Trauma von vor 30 Jahren – den Zusammenbruch der früheren, sowjetischen Version des russischen Staates. Sie wissen: Staaten sind sterblich und konkurrieren miteinander. Ihnen ist klar: Ein starkes Russland wird im Westen bestenfalls als Konkurrent und schlimmstenfalls als Feind gesehen. Das gegenwärtige, autoritäre Russland wird vom Westen ebenso abgelehnt wie davor das zaristische und kommunistische. Für Europa und die USA war stets nur ein schwacher russischer Staat akzeptabel. Etwa die proviso­rische Regierung 1917 oder Jelzin nach dem Zusammenbruch der UdSSR.

Hatten die bevorstehenden Dumawahlen Einfluss auf die Entstehung dieser Sicherheitsstrategie?

Vielleicht gibt es da eine tiefere Verbindung. Aber die Strategie geht weiter und tiefer als bis zur nächsten Wahl. Das größte Problem der Behörden ist ein Neustart des politischen Systems im Zusammenhang mit mittel- oder langfristig unvermeidbaren Veränderungen, etwa eine neue Person im Amt des Präsidenten der Russischen Föderation. Nichts ist wichtiger für das politische Russland. Parlamentswahlen spielen hier eine deutliche, aber keine entscheidende Rolle.

Die Fragen stellten Julia Dudnik und Roland Bathon.

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