Es ist immer viel mehr über die Ankunft als über die Abfahrt dieses Zuges geschrieben worden, der am 16. April 1917 am Finnländischen Bahnhof im damaligen Petrograd eintraf. Genauer gesagt war es ja nur ein Eisenbahnwagen, der Lenin und 30 Mitstreiter aus dem Schweizer Exil in die russische Heimat brachte und vor den auf dem Weg über Deutschland, Schweden und Finnland wechselnde Lokomotiven gespannt waren. Nach sieben Tagen Fahrt – mit längeren Unterbrechungen und einer Ostseeüberquerung von Sassnitz nach Trelleborg per Fähre – sollen den Reisenden am Ziel Tausende Arbeiter und Soldaten einen begeisterten Empfang bereitet haben. Lenin, damals 47 Jahre alt, hielt an Ort und Stelle eine Rede. Nur wenige Monate später sollte der scharfzüngigste Kritiker der bürgerlichen Regierung in Russland und Ideologe der Machtübernahme durch die Bolschewiki an der Spitze der Oktoberrevolution stehen.
In der Schweiz haben die Lehrstühle für Osteuropäische Geschichte der Universitäten Basel, Zürich und Bern jetzt die Zugfahrt vor 100 Jahren zum Anlass genommen, um in einem Gemeinschaftsprojekt an die Revolution zu erinnern, über die Rolle des eigenen Landes dabei zu diskutieren und der Frage nachzugehen: Wäre die Weltgeschichte anders verlaufen, hätte Lenin, der sich seit 1914 in der Schweiz aufhielt, seinerzeit nicht nach Russland gelangen können?
Höhepunkt eines Thementages war neben Vorträgen, einer Lesung und einem Podiumsgespräch im Landesmuseum Zürich eine szenische Bahnfahrt im historischen Dampfzug auf dem Schweizer Teil der damaligen Reise von Zürich nach Schaffhausen. Die 300 Tickets waren innerhalb von zwei Tagen ausverkauft. Am 9. April um 15.29 Uhr setzte die Lokomotive, Baujahr 1904, den Zug in Bewegung. Unterwegs erlebten die Passagiere eine Theateruraufführung: Das Ensemble Thorgevsky & Wiener beschäftigte sich dabei mit den Schicksalen der Revolutionäre, aber auch der Menschen, die in der Revolution unter die Räder gerieten. Den Lenin gab der Schauspieler Dani Mangisch, zuletzt im Tatort „Kriegssplitter“ zu sehen.
Tino Künzel