Zerstörungswut als urbanes Konzept: Der „Flaneur“ entdeckt Moskau.

Seit 2013 nimmt sich die Berliner Zeitschrift „Flaneur“ alle sechs Monate eine Straße in einer neuen Stadt vor. Von März bis Mai besuchten die Flaneure Moskau. Entstanden ist die bald erscheinende Ausgabe über den Boulevardring. Die MDZ sprach mit Chefredakteur Fabian Saul über das Flanieren und darüber, was man in Moskau über seine eigene Stadt lernen kann.

Das Cover der Moskau-Ausgabe des "Flaneur"

Das Cover der Moskau-Ausgabe des „Flaneur“

Für jede Ausgabe leben Sie zwei Monate in einer neuen Stadt – wie kommen Sie mit den Menschen vor Ort in Kontakt?

Meistens hat man schon den ein oder anderen Kontakt, der Rest ist ein Dominoeffekt – ein Künstler stellt seinen Bekannten vor, der kennt andere interessante Leute und plötzlich ist man Teil der Kunst- und Kulturszene, die nicht nur in Moskau sehr eng vernetzt ist.

Der „Flaneur“ erscheint auf Englisch, Ihre Muttersprache ist Deutsch, keiner von Ihnen spricht Russisch …

Unsere Herausgeberin Ricarda Messner spricht ein wenig Russisch, das hat natürlich geholfen. In der Kunstszene gibt es aber starke Brücken in andere Länder und meistens hat es mit Englisch gut funktioniert.

Beim Moskau-Heft geht es nicht um eine einzelne Straße, sondern gleich um den ganzen Boulevard-Ring. Was war der Grund für diese Umstellung?

Wir haben gemerkt, dass es das Konzept einer Straße als lokalem Mikrokosmos in Moskau nicht gibt. Der Kreml ist das Epizentrum, und darum herum gibt es viele Inseln, wir nennen sie Orbits. Man orientiert sich eher an Verbindungslinien oder Knotenpunkten. Der Boulevard-Ring ist eine solche Verbindungslinie. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich eher um die Idee eines Rings handelt, der faktisch ein fragmentiertes Konstrukt ist. Wir wollen einzelne Stationen auf ihm miteinander in Kontakt bringen.

Moskau ist für seinen rauen Wind bekannt. Wie sind Sie hier zurechtgekommen?

Das ganze Prinzip des „Flaneur“ ist es, mit dem Ort zu arbeiten und nicht über ihn. Wir stoßen Kollaborationen mit lokalen Künstlern an. Es ist nicht gewollt, dass wir alle Arbeit selbst machen. Auch dürfen wir nicht in die Falle tappen, nicht mit der Generation unserer Eltern und Großeltern zu sprechen, weil wir es persönlich nicht können. Im neuen Heft gibt es einen Beitrag mit einer Frau, die nur Russisch spricht. Sie lebt in einem Haus auf dem Boulevardring, das bald abgerissen wird.

Das kommt in Moskau recht häufig vor.

Ja, Moskau hat diese Obsession, sich permanent neu zu erfinden, und zwar auf dem Prinzip von Zerstörung und Neubau und nicht auf dem von Entwicklung. Das ist besonders im Sinne von Erinnerungsgeschichte traumatisch, weil vieles verloren geht, das Identität stiftet.

In Ihrem Heft zum Corso Emmanuele II heißt es, der Blick auf die Vergangenheit sei in Rom so stark, dass niemand an die Zukunft denkt. Bezogen auf Moskau sprechen Sie hingegen von einer regelrechten Zerstörungswut.

Die Zerstörungswut hat in Moskau Tradition. Sie ist fast schon ein urbanes Konzept. Viele Orte stehen kurz vor dem Verschwinden; sie können uns etwas über die Vergangenheit erzählen und sind gleichzeitig fast nicht mehr da. Das macht eine Projektion in die Zukunft auf. Genau hier steht der Flaneur – eine Mischung aus melancholischem Nostalgiker und Avantgardisten, der projiziert. Wenn wir im Oktober wiederkommen, wird es vieles, was wir noch Anfang Mai gesehen haben, nicht mehr geben. Ein großer Teil der Kultur von Zerstörung und Neuanfang wird zwar als Vision präsentiert, ich bin aber skeptisch, ob das eine Vision ist, an der die Menschen teilhaben.

Fabian Saul, einer der beiden Chefredakteure des "Flaneur" / Flaneur

Fabian Saul, einer der beiden Chefredakteure des „Flaneur“ / Flaneur

Wie gehen die Moskowiter damit um?

Man hat sich arrangiert, kennt die Strategien der Kommunikation, Partizipation und Auseinandersetzung, die es gibt. Der öffentliche Raum steht nicht in der Form zur Verfügung, wie wir sie zum Beispiel aus Berlin kennen, wo er ein permanent umkämpftes Objekt ist, das im wörtlichen Sinn besetzt, geräumt und umstrukturiert wird. Hier gibt es eher geschlossene Konzepte von oben. Aus europäischer Perspektive ist man schnell dabei, mit Blick auf Russland nur über Repressalien zu sprechen. Man muss aber sehen, dass hier unglaublich viel passiert. Es werden auch liberale Entscheidungen getroffen. Gerade deshalb dürfen wir nicht mit vorgefertigten Erklärungen herkommen.

Wie äußert sich diese offene Herangehensweise in Ihrer Arbeit?

Es ist immer schwer nachzuvollziehen, wie groß der eigene Einfluss ist, man kommt ja doch bereits mit eigenem Gepäck an. Unser Zugang zu einem Ort ist subjektiv, das darf er auch sein. Er kann jedoch nicht der einzige bleiben, wir müssen verschiedene Perspektiven zulassen. Der erste Teil der Zeit hier hatte definitiv mehr mit Zuhören zu tun. Wir möchten die Hierarchie abbauen, die sagt, wer interessant ist und wer nicht, und alle Geschichten zulassen.

Der Flaneur, der durch die Stadt wandert, hat kein bestimmtes Ziel und lässt alles auf sich wirken. Was lernt man dadurch in Moskau?

Wir haben die Frage der Bewegung viel stärker reflektiert als in anderen Städten. Es gibt bestimmte Wege, die sind nur so möglich und nicht anders. Und die meisten haben eine klare Richtung: vorwärts. Wenn man in der Metro auf dem Weg zur Rolltreppe ist und merkt, dass man sich vertan hat, ist die Menschenmasse oft zu groß, um zurückzugehen. Bei so vielen Menschen ist jeder Moment, in dem die Bahn unterbrochen wird, eine potentielle Problemstelle. Nachdem ich in St. Petersburg war, hatte ich das Gefühl, die Leute in Moskau rennen viel mehr – vielleicht, weil ich in St. Petersburg die europäische Stadt sehe und mich dort wohler fühle.

Der Boulevard entstand im 17. Jahrhundert. Was für ein Stadtkonzept steckt dahinter?

Der Boulevard ist ein Pariser Konzept. Hinter diesem Ort, der vermeintlich zum Flanieren einlädt, steht ein militärisches Konzept: Du darfst hier laufen, aber dir kann der Weg abgeschnitten werden, du kannst beschossen werden. Es ist eine Straße, die verbarrikadiert werden kann. Anders als in einem mittelalterlichen Konzept von verschlungenen Wegen, die nicht kontrollierbar sind.

Was heißt das genau für Moskau?

Die Idee hinter der diesjährigen Sanierung des Rings ist es, ihn der Bevölkerung stärker zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig wurde im Frühjahr ein neuer Teil der Polizeistreitkräfte gegründet. Die sind auch darauf geschult, Proteste niederzuschlagen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass das gleichzeitig passiert. Jetzt denken wir natürlich „Ah, das passt ja gut in unser Bild von Putins Russland!“, und klar tut es das. Aber es passt auch zur Idee von Boulevards generell. Wenn wir über das Laufen hier nachdenken, sollten wir nicht nur Moskau im Blick haben, sondern städtischen Raum allgemein. Das hilft zu erkennen, was in unseren eigenen Stadtraum eingeschrieben ist.

Wird Moskau Sie wiedersehen?

Wir kommen Mitte Oktober wieder nach Moskau, um die aktuelle Ausgabe des „Flaneur“ gebührend zu feiern.

Das Interview führte Georgia Lummert.

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