Die zehn Gebote der MDZ

Ein Versuch, ungeschriebene Regeln in eine Form zu gießen .

In der Welt der Information verschafft sich jeder auf seine Weise Gehör. © Tino Künzel

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Du sollst nicht dauernd „Putin“ schreiben! Dieser Tage hat die „Bild“ getitelt, „Putins Börse“ sei eingebrochen. Gemeint war natürlich die russische Börse in Moskau, die im Übrigen Moskauer Börse heißt. Ob die „Bild“-Redaktion glaubt, dass ihre Leserschaft mit Moskau nichts anfangen kann? Oder so dressiert ist, dass sie in Sachen Russland nur noch auf Berichte reagiert, bei denen Putin in der Überschrift steht? Zweifellos ist der russische Präsident ein außergewöhnlich einflussreicher Politiker. Aber Putin ist nicht Russland und Russland ist nicht Putin. Wer wollte schon etwas anderes behaupten? In den meisten Artikeln hat sein Name nichts zu suchen. Wer ihn künstlich hineinschreibt oder gar als Synonym für Russland gebraucht, legt falsche Spuren.

2

Du sollst nicht eine deutsche Agenda auf Russland übertragen! Die gleichgeschlechtliche Ehe etwa ist gewiss ein wichtiges Thema und auch den Russen als solches durchaus geläufig, sie leben ja nicht im luftleeren Raum. Allerdings spielt es im öffentlichen Diskurs bisher eine sehr untergeordnete Rolle. Und nur weil die Diskussion darum im Westen zuletzt eine solche Dynamik erreicht hat, heißt das nicht, dass nun auch Russland endlich Farbe bekennen muss, wo doch dafür nahezu sämtliche Voraussetzungen fehlen. Wir wollen die russische Gesellschaft von innen heraus verstehen und darstellen. Dabei dieselben Schwerpunkte wie in Deutschland zu setzen und Russland also durch eine deutsche Brille zu betrachten, verzerrt das Bild.

3

Du sollst deinen Augen und Ohren mehr trauen als deiner aus Deutschland mitgebrachten Vorbildung über Russland, gerade wenn sie über die Medien erworben wurde! Nicht, dass es dort keine engagierte und verdienstvolle Berichterstattung gäbe. Das Problem ist auch nicht, dass sie oft subjektiv und selektiv ausfällt, das liegt in der Natur der Sache. Erstaunlich ist hingegen, dass sich diese Subjektivität und Selektivität quer durch die Medienlandschaft sehr häufig ähnelt und der Tenor selbst bei kontroversen Themen in dieselbe Richtung geht.

4

Du sollst es dem Leser ermöglichen, sich ein eigenes Urteil zu bilden und nicht nur zu denselben Schlüssen kommen zu können wie der Autor selbst! Das setzt voraus, sich mit Wertungen zurückzuhalten und nicht nur Leute zu zitieren, deren Meinung ins „Konzept“ passt. Oft genug verraten Beiträge mehr über die Ansichten des Schreibers als über den Gegenstand des Artikels.

5

Du sollst in Russland keine Abstriche an journalistischen Standards zulassen, die in Deutschland selbstverständlich sind! Immer zwei – oder mehr – Seiten zu hören, Quellen zu prüfen und korrekt zu benennen, Fakten und Aussagen zu hinterfragen, soweit das möglich ist, sich tendenziöse Töne zu verkneifen – das und mehr darf nicht davon abhängig sein, ob es vielleicht gerade um Ramsan Kadyrow, die Staatsduma oder andere Personen und Einrichtungen geht, die nicht den besten Leumund besitzen und gegebenenfalls auch selbst verquere Vorstellungen davon haben, was die Presse kann und soll.

6

Die MDZ erscheint inzwischen seit 20 Jahren. © Denis Schabanow

Du sollst jede Gelegenheit nutzen, dich außerhalb der Redaktion und am besten auch außerhalb von Moskau umzuschauen und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen! Die MDZ ist eine Zeitung aus Russland über Russland, deshalb wollen wir maximal davon profitieren, vor Ort zu sein. Ein Rundfunk-Redakteur aus Deutschland hat uns letztes Jahr geschrieben, er habe den Eindruck, wir seien „nahe an den Menschen“ in Russland. So soll es sein.

7

Du sollst den Lesern auch möglichst viele und vielseitige visuelle Eindrücke vermitteln, damit sie sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild von Russland machen können! Die Deutschen wissen, wie Putin aussieht – siehe Punkt 1. Wer hin und wieder bei ARTE oder den dritten Programmen reinschaut, der taucht in Reisereportagen auch mal tief in die Weiten des Landes ein. Unter dem Radar bleibt meist der ganz normale russische Alltag. Deutsche, die Russland zum ersten Mal besuchen, haben sich das Land nach eigener Aussage häufig anders vorgestellt. Typischerweise sind sie positiv überrascht.

8

Du sollst russische Quellen im Original lesen/sehen/hören! Das schützt nicht nur davor, Zitate zu verwenden, die, aus dem Zusammenhang gerissen, zwar den Wortlaut wiedergeben, aber zu falschen Interpretationen verleiten. Klassisches Beispiel ist Putins Sentenz vom Untergang der Sowjetunion als „größter geopolitischer Katas­trophe des 20. Jahrhunderts“. Originalquellen heranzuziehen, hilft auch dabei, sich in die Denke der russischen Autoren hineinzuversetzen. Einzelne Sätze lassen das in der Regel nicht zu.

9

Du sollst dir von deinen Sympathien für Russland nicht den nüchternen, unvoreingenommenen Blick auf Missstände verstellen lassen! Dass solche Wahrnehmungskonflikte entstehen können, ist durchaus naheliegend. Zumindest kann davon ausgegangen werden, dass, wer bei der Moskauer Deutschen Zeitung arbeitet, auch Sympathien für Russland hegt. Alternative Motivationen wie eine nach deutschen Maßstäben lukrative Entlohnung scheiden jedenfalls aus.

10

Du sollst dich nicht selbst zensieren! Zensur ist bei der MDZ ein Fremdwort, die Redaktion arbeitet eigenverantwortlich. Nicht politisch, aber menschlich-journalistisch bleibt die Herausforderung, keine falschen Rücksichten auf Interviewpartner zu nehmen oder sich sprachlich dem Mainstream anzupassen.

Tino Künzel

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