Wie haltet ihr es mit Deutschland?

Anfang Februar war es 75 Jahre her, dass die Schlacht von Stalin­grad mit der deutschen Kapitulation endete. In Wolgograd, wie die Stadt seit 1961 heißt, wurde der Jahrestag unter anderem mit einer Militärparade und einer Kunstflugshow begangen. Am Rande der Feierlichkeiten hat MDZ-Redakteur Tino Künzel Einwohner gefragt, was sie eigentlich heute von Deutschland und den Deutschen halten. Nach einem Feindbild klingen die Antworten nicht. Eher nach einem Freundbild.

Ein Stück deutsch-russischer Geschichte in Wolgograd: Das sogenannte Pawlow-Haus wurde in der Schlacht von Stalingrad zum Inbegriff des erbitterten Widerstands gegen die Deutschen, die das Wohngebäude, mitten im Stadtzentrum und unweit der Wolga gelegen, unter Dauerbeschuss nahmen, sich jedoch Verteidigern gegenüber sahen, die der überlegenen Technik trotzten. Beim Wiederaufbau des Hauses nach dem Krieg wurde eine Stirnseite mit den Ziegeln des Vorgängers als Denkmal gestaltet. © Tino Künzel

Deutschland und die Deutschen? Alles bestens

Alexander Iljuschin
Jurist

© Tino Künzel

Unsere Vorväter haben damals den Faschismus bekämpft. Das heißt nicht, dass wir eine negative Einstellung zu Deutschland haben, schon gar nicht zum heutigen Deutschland. Wir wissen das schon  auseinanderzuhalten. Was könnten wir denn gegen  Deutschland und die Deutschen haben? Ach was, alles bestens. Und umgekehrt ist es doch genauso. Ein früherer Klassenkamerad von mir fährt regelmäßig nach Deutschland. Der erzählt, dass er dort als Russe noch nie schief angesehen wurde.

Sanktionen, sagen Sie? Ach, wissen Sie, von den Sanktionen merken wir nicht viel. Oder, Maxim? (Wendet sich an seinen zwölfjährigen Sohn, der sagt, er merke davon „überhaupt nichts“.) Eher im Gegenteil, es gibt heute mehr russische Waren in den Regalen, das ist doch gut so. Und letztlich wurden die Sanktionen ja von den Politikern verhängt. Die zwischenmenschlichen Beziehungen betrifft das nicht. Wir waren im Urlaub in Spanien, in Griechenland, als die Sanktionen bereits in Kraft waren. Ich kann nicht sagen, dass man sich uns gegenüber anders verhalten hätte als davor.

 

Mit den Deutschen kein Problem, nur mit den Faschisten

Larissa Kowaljowa
Angestellte

© Tino Künzel

Wir denken nicht schlecht über die Deutschen, sind aber vor allem auf unser Volk und unser Land stolz, dass man nicht zerbrochen ist damals. Wenn man sich mal in die Lage der Leute versetzt, dann kann man sich ja kaum vorstellen, wie die das überhaupt ausgehalten haben – und dabei noch Mensch geblieben sind.

Wenn ich die deutschen Kriegsgefangenen auf Bildern sehe, die tun mir leid. Aber es war ja nicht unsere Schuld, dass sie in ein fremdes Land einmarschiert sind. Wie viele Kinder hier zu Waisen geworden sind, wie viele Opfer wir zu beklagen hatten! Einer meiner Großväter ist in Kriegsgefangenschaft geraten und an den Spätfolgen seiner Verletzungen gestorben, als mein Vater sechs Jahre alt war. Der andere Opa ist auch verwundet worden, deshalb hat man ihn ins Hinterland abkommandiert, um in einem Produktionsbetrieb im Ural zu arbeiten.

Von den beiden Großvätern meines Mannes ist einer hier am Übergang über die Wolga gestorben und einer bei Moskau gefallen. Der Bruder meines Mannes hat in Stalingrad gekämpft. Dann durfte er für einen Kurzurlaub nach Hause, in einen Randbezirk der Stadt. Als ihn seine Mutter erblickte, ist sie außer sich vor Freude, dass er am Leben ist, zu seiner Oma gelaufen, um sie zu holen. Und genau in dem Augenblick hat ihn ein verirrtes Geschoss, das ins Haus eingeschlagen ist, getötet.

Von solchen Schicksalen kann Ihnen hier jeder erzählen. Der Krieg hat keine Familie verschont. Aber trotzdem sollen Sie wissen, dass wir mit den Deutschen kein Problem haben. Mit den Faschisten, die uns dieses Leid zugefügt haben – ja. Aber mit den Deutschen nicht.


Wolgograd

Unter Russlands 15 Millionenstädten nimmt Wolgo­grad mit 1,01 Millionen Einwohnern Platz 15 ein. Die Stadt wurde gleich mehrfach umbenannt. Bis 1925 hieß sie Zarizyn, anschließend Stalingrad, kam dann im Zuge der Entstalinisierung unter Chrusch­tschow zu ihrem heutigen Namen.

Am Kriegsende waren 90  Prozent aller Gebäude zerstört und die meisten Viertel praktisch unbewohnt. An den Kampf gegen die Deutschen erinnern unter anderem die Gedenkstätte auf dem Mamajew-Hügel und das Panorama der Schlacht von Stalingrad. Im kommenden Sommer gehört Wolgograd zu den zwölf Spielorten der Fußball-WM in Russland. Dafür wurde am Wolga-Ufer unterhalb des Mamajew-Hügels ein neues Stadion für 45.000 Zuschauer gebaut. Der örtliche Fußballklub Rotor kickt derzeit in Russlands Zweiter Liga (FNL) und hatte vorige Saison einen Besucherdurchschnitt von 2.446. Noch in den 90er Jahren waren es in jedem Jahr mehr als 10.000, im Jahr 1997, als Rotor russischer Vizemeister wurde (nach Platz 3 in der Saison davor), sogar 21.625.

In Wolgograd wird nicht nur zurück-, sondern auch nach vorn geschaut: das WM-Stadion, die Wolgograd Arena, vom Mamajew-Hügel aus gesehen. © Tino Künzel


Zwischen unseren Völkern darf es keine Mauern geben

Jurij Borodin
Journalist

© Tino Künzel

Meine beiden Großväter sind im Krieg umgekommen, aber soll ich euch deshalb hassen? Nein, das tue ich nicht. Ich will Ihnen etwas erzählen: Da, wo ich herkomme, aus Südrussland, ist unser elterliches Haus im Krieg von einer Granate zerstört worden. Nicht nur in meiner Familie, sondern überall haben die Leute furchtbar Hunger gelitten. In der Nähe gab es ein Lager für deutsche Kriegsgefangene. Und obwohl die Einheimischen selbst nichts zu essen hatten, haben sie denen immer mal etwas zugesteckt. Statt Hass haben sie Mitleid empfunden.

Als Deutschland 1990 wiedervereinigt wurde, hat man hier mit Verständnis reagiert. Denn es ist nicht normal, dass ein Volk durch eine Mauer getrennt ist. Und auch zwischen unseren Völkern darf es keine Mauern geben. Ich bin für mehr Begegnungen zwischen einfachen Menschen. Wir sollten euch öfter besuchen kommen und ihr uns.

 

Wir machen uns Sorgen um Deutschland

Anatolij Muchin
Rentner, Fotograf, ehemals Schlosser im berühmten Wolgograder Traktorenwerk, das in den Kriegsjahren den Panzer T-34 herstellte

© Tino Künzel

Was ich nicht verstehe: Wir haben auch euch damals von dieser Pest befreit und trotzdem haltet ihr zu den Amerikanern. Das heißt, eure Staatsführung. Dabei steht bei den Amerikanern seit eh und je Macht an erster Stelle, die gehen über Leichen. Wie gesagt, ich rede von der Politik, nicht von den einfachen Menschen. Wir Russen warten schon die ganze Zeit darauf, dass endlich normale Leute in Amerika und in Deutschland an die Macht kommen. (Lacht) Nichts gegen Merkel, ich meine das nicht persönlich, sondern im Großen und Ganzen. Wir machen uns Sorgen um Deutschland und würden uns wünschen, dass es seinen eigenen Weg geht, unabhängig von Amerika. Dass unsere Länder, überhaupt alle Länder der Erde zusammenhalten, anstatt sich Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Sehr schade, dass man uns nicht respektiert. Denn wenn es die Sowjetunion nicht gegeben hätte, wer weiß, was zum Beispiel aus Polen und den baltischen Staaten, wo man heute mit dem Finger auf uns zeigt, geworden wäre. Die waren doch alle von Hitlers Truppen besetzt.

Was zwischen uns passiert ist, lässt sich nicht mehr ändern. Das ist Geschichte. Heute betrachten wir euch als Menschen vom selben Schlage. Wenn meine Wohnung hier in der Nähe wäre, dann würde ich Sie jetzt zum Tee einladen und mich sehr freuen, Sie zum Gast zu haben. Wir Russen sind hilfsbereite und aufmerksame Leute. Leider scheinen manche immer noch Feinde in uns zu sehen.

 

Wachablösung in der Ruhmeshalle auf dem Mamajew-Hügel in Wolgograd (© Tino Künzel):

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