Wodka für die russische Seele

Lange Zöpfe, tanzende Bären und barfüßige Schauspieler: Das immersive Theaterstück „Black Russian“ setzt auf Folklore und zeigt dabei auf opulente und atmosphärische Weise die dunklen Abgründe der russischen Seele.

Schwarz, schwärzer, Black Russian: die dominante Farbe des Stücks. / Foto: Ecstátic.

Wer trinkt bloß Wodka im Theater? In Russland hat zwar beides Tradi-tion, allerdings gehört es hier nicht zum guten Ton, sich in der Pause  ein Gläschen zu gönnen. Doch was in diesem Haus passiert, ist alles andere als normal. Der theatralische Thriller „Black Russian“ beginnt mit einem Wodka-Empfang. Dazu werden Schwarzbrot, Blutwurst und rote Weintrauben serviert. Im halbdunklen Licht sieht das Ganze einfach nur schwarz aus – der rote Faden des Abends.

„Hier wird man wahnsinnig“, verspricht die Webseite des Projekts. „Black Russian“ ist das erste immersive Theaterstück in Russland. Immersion leitet sich vom lateinischen Verb „immergere“ her und bedeutet so viel wie „sich versenken“. Im immersiven Theater tauchen Besucher in eine künstliche Welt ein. Denn die Handlung beschränkt sich nicht auf eine Bühne, sondern macht das ganze Haus zum Spielplatz. Hierfür hat die Theatergesellschaft „Ecstátic“ die alte Villa von Staatsrat Spiridonow im Moskauer Zentrum gemietet. Die Distanz zwischen Bühne und Publikum ist im Spiel aufgelöst. Wer ein Ticket kauft, sitzt nicht gemütlich im Parkett, sondern wandelt durch opulent inszenierte Räume, inter-agiert mit den Darstellern und wird für eine Weile sogar selbst zu einem von ihnen.

Das russische Pendant zu Romeo und Julia

2011 führte eine britische Theatergruppe in einem verfallenen Hotel in New York das Stück „Sleep no more“ nach Shakespeares „Macbeth“ auf. Als erfolgreicher Vorreiter dieses Genres soll es die russischen Produzenten inspiriert haben, dieses Format nach Moskau zu bringen. So feierte „Black Russian“ im September vergangenen Jahres seine Premiere. Danach folgten weitere Inszenierungen.

Das Publikum teilt sich in drei Gruppen auf: Hirsch, Füchse und Eulen. / Foto: Ecstátic.

Ein unvollendeter Räuberroman von Alexander Puschkin liegt der Show zugrunde. In „Dubrowskij“ wird die Geschichte zweier Adelsfamilien erzählt: Die Familie Trojekurow ist reich und mächtig, die Familie Dubrowskij lebt dagegen bescheiden. Die beiden Herren verbindet eine lange Freundschaft, bis sie sich bei einer gemeinsamen Jagd zerstreiten. Der wohlhabende Trojekurow nutzt seine Bekanntschaften, um das Gut seines Gegners zu enteignen. Dubrowskij überlebt diese Tatsache nicht und stirbt. Sein Sohn will ihn rächen.

Dubrowskij und Mascha: Eine Liebe, die bis in den Tod führt. / Foto:  Ecstátic.

Man muss das Original nicht gelesen haben, um das Stück „Black Russian“ zu verstehen. Im Zentrum der Aufführung steht eine Liebesgeschichte wie bei Romeo und Julia. Der reiche Trojekurow hat eine schöne Tochter, Mascha, der arme Dubrowskij einen Sohn, Wladimir, der Gerechtigkeit und Liebe will. Welche der drei Handlungsstränge man als Zuschauer erlebt, wird am Eingang entschieden, wo man eine Maske bekommt. Das Publikum teilt sich so in drei Gruppen auf – die Hirsche folgen Dubrowskij, die Füchse gehen mit Mascha und die Eulen begleiten ihren Vater. Jede Gruppe sieht so ihr eigenes Stück. Die Einen geraten mit Mascha in einen Stall mit echtem Heu, nach dem es übrigens im ganzen Haus riecht, und echten Gänsen und einem schwarzen Huhn. Dort singt sie Volkslieder und tanzt mit Bären, die aber natürlich nur verkleidete Schauspieler sind. Die andere Gruppe vertieft sich mit Trojekurow in seine Vorliebe für Hofmädchen. Die dritte Gruppe beobachtet den auf einem Trampolin springenden Dubrowskij.

Folklore trifft Techno

Die drei Fäden kreuzen sich in der Mitte des Stücks. In einem großen Ballsaal treffen alle aufeinander: die Protagonisten und ihre Doppelgänger. Es wird getanzt und geschrien, Volkslieder werden mit Techno-Sound unterlegt. Der zentrale Raum verwandelt sich in ein Kochstudio, wo man einen Schau-spieler mit schwarzen Pelmenis aus der Hand füttern kann.

Das Publikum wird auf Schritt und Tritt von schwarz bekleideten Mönchen begleitet und darauf hingewiesen, die Maske anzubehalten. Dazu starren das ganze Stück über noch schwarze Engel auf hohen Absatzschuhen den Zuschauern ins Gesicht. Und ins Gewissen? „Black Russian“ – das ist die schwarze Seite der russischen Seele: widersprüchlich, käuflich, zynisch und süchtig nach Macht.

Am Ende lesen Trojekurow und Co. ein Gedicht von Puschkin vor. Genau wie vor 180 Jahren regieren die Reichsten die Welt und werden das auch weiterhin tun. Kaum geht einem dieser Gedanke durch den Kopf, fordert eine männliche Stimme die Gäste schon auf, das Haus schnellstens zu verlassen. Eine Warnung, die sich ständig wiederholt.

Für ein Selfie bleibt keine Zeit. Wenn man das nur am Anfang gewusst hätte, dann hätte man die Situation genutzt, als man vom roten Teppich auf der Straße eintrat und ein Sarg mit Spiegel vor einem auftauchte.  In diesem Sinne wirkt „Black Russian“ wie der gleichnamige Wodka-Cocktail: Er stellt einem die Welt auf den Kopf.

Von Julia Shevelkina

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