Wladimir Fedossejew: Altmeister zwischen Ost und West

In Russland verehrt, im Ausland begehrt: Wladimir Fedossejew dirigierte die Wiener Symphoniker und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Mit 85 Jahren denkt er noch lange nicht ans Aufhören. Ein Portrait.

Eine volle Tschajkowskij-Konzerthalle: Wladimir Fedossejew dirigiert mit Hingabe das Symphonieorchester. /Foto: Bruck Consult.

Die Einfahrt in die enge Bolschaja-Dimitrowka-Straße, gleich um die Ecke der Staatsduma, ist hoffnungslos verstopft. Nein, nicht wegen der allabendlichen Verkehrsspitze. Und nicht wegen des vorweihnachtlichen Shopping-Gewusels. Die festlich gekleideten Menschen drängeln sich zur frisch renovierten, imposanten „Säulenhalle“ im Dom Sojusow, wohl einer der schönsten Konzertsäle der an Musiktempeln so reichen Hauptstadt. Mehr als 1200 meist geladene Gäste finden darin Platz, so manche nur im Stehen. Der föderale Kultusminister, Wladimir Medinskij, Hilarion Alfejew, Metropolit von Wolokolamsk und Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Heerscharen Prominenter aus Politik, Kultur und Wirtschaft waren da. Und das aus Anlass eines 85. Geburtstages des Dirigenten Wladimir Fedossejew aus dem ehemaligen Leningrad. Längst ein rastloser Wanderer zwischen zwei Welten, zwischen zwei historisch-klassischen Musikkulturen Russland und Österreich und weit darüber hinaus. Künstlerischer Direktor und Chefdirigent vom global gefeierten Moskauer Tschajkowskij-Symphonieorchester und gleichzeitig von 1997 bis 2007 der Wiener Symphoniker: „Das Musikleben in Wien ist ohne diesen russischen Dirigenten nicht vorstellbar“, hat es dort mal eine lokale Kritik beschrieben.

Der Abend wurde ein von Bruck Consult Moskau/Wien gestaltetes, rauschendes Gala-Fest. Mit Champagner und Buffet, mit einer Fotoausstellung zu Fedossejews Leben, vor allem aber natürlich mit Musik – Filmmusik von Swiridow, ein Wiener Fiakerlied, Klassiker von Mahler, Schubert, Ravel, Johann Strauß, Opernwerke von Wagner und Puccini, Stücke von Lehar, Rachmaninoff und natürlich von Tschajkowskij. „Den muss jeder lieben, aber das wahre Gefühl für die Tiefe russischer Klassiker haben russische Musiker“, beschwört Fedossejew die viel zitierte „russische Seele“ – und seine eigene Heimatliebe. Musikexperten in aller Welt apostrophieren ihn als einen der vielleicht letzten Romantiker: „Fedossejew kombiniert sein musikalisches Gefühl mit einer ausgewogenen künstlerischen Auslegung.“ Seine persönlichen Interpretationen orientieren sich konsequent an dem, was die Komponisten einst und jetzt seiner Auffassung nach mit ihren Werken ausdrücken wollten und wollen. Ohne vermeintlich aktualisierende Schnörkel, ohne Selbstdarstellung eines Dirigenten.

Von St Petersburg über Moskau in die ganze Welt

Der Taktstock war Fedossejew wahrlich nicht in die Wiege gelegt. Sein Vater war Ingenieur, seine Mutter immerhin Sängerin in einem Kirchenchor. Und dann kam der Krieg. Besonders hart für das heutige St. Petersburg. Aber im Dunkel dieser Zeit bot ihm selbst und vielen leidgeprüften Mitbürgern die Musik aufmunternde Lichtblicke. Er war keine zehn, als er in Lazaretten und Notunterkünften Akkordeon spielte. Dieses Talent und diese Neigung führten ihn schließlich an die heutige Moskauer Gnessin-Musikakademie und zum Tschajkowskij-Konservatorium. Seine ersten beruflichen Dirigenten-Erfolge, ob in Konzerten oder im Opern-Orchestergraben, konnte er dann aber wieder zuhause in Leningrad erleben.

Wladimir Fedossejew in seinem Element /Foto: Bruck Consult.

Im Erdgeschoss des einstigen All-Unions-Radio-Gebäudes in der Malaja-Nikitskaja-Straße in Moskau befindet sich sein überschaubares Büro. Seit 1974 ist er Chefdirigent des staatlichen Orchesters, 1930 als erstes der Sowjetunion gegründet, das er im Laufe der Jahrzehnte zu reichlich Weltruhm führte – in unzähligen Live-Auftritten und auf ebenso vielen Tonträgern.

Ein kleines Ensemble schwarz-lederner Sofas, ein paar schlichte Einbauschränke und Regale. Der verblichen-blasse Charme sowjetischer Nüchternheit. An einer Wand hängen Ikonenbilder in Kreuzform arrangiert, an der Wand gegenüber hat er sich selbst photographisch verewigt – in verschiedenen Alters- und Schaffensphasen. Übersteigerte Selbstachtung und heraushängende Eitelkeit sind seiner Natur aber wohl eher fremd. Die Ehren-Ordensverleihung durch Präsident Wladimir Putin ist, wenn auch für ihn erkennbar besonders wichtig, nur eine von kaum mehr zählbaren Ehrungen, Auszeichnungen, Urkunden und Pokalen aus aller Musikwelt – wohltuende Seelenmassage, Sprossen auf seiner langen musikalischen Karriere­leiter. Da ist er ein irgendwie normal gebliebener, sinnenfroher Gemütsmensch. Mit unbeirrbarer Mutterlandsliebe und ausgeprägter Bodenhaftung. Sein einzig ostentativer Luxus ist sein mächtiger Audi Q7-SUV, den er am liebsten auch noch selber steuert. Wie es so schön heißt: „Nach den Sternen greifen, aber mit den Füßen auf dem Boden bleiben.“ Das ist ihm gelungen. Dabei hat er so einige Sterne greifen können, wie gesagt, schon zu Sowjetzeiten des großen „Roten“.

Persimfans: Orchester ohne Dirigent

Glaube, Angeln und Natur

Der Maestro, eher von kleinerer, aber stämmiger Natur, wächst vor seinem Orchester weit über sich hinaus. Selbst vor den Zuschauerblicken in Rückansicht entfaltet sich ein ungezügeltes Energiebündel. Je nach Tempi wechseln sich sanft schwingende mit leiden-schaftlich hektischen Armbewegungen ab. Er geht in die Knie, um sich gleich wieder hochzustrecken. Wenn der Applaus aufbraust, breitet sich ein freundlich-zufriedenes Lächeln über das ganze Gesicht aus. Sein volles Haupthaar, in hellbrauner Naturfarbe mit leichten Grausträhnen durchsetzt, ist in gepflegter Form geblieben. Keinerlei erkennbare Anzeichen von Anstrengung, selbst nach Darbietung langer, schwieriger Kompositionen. Immerhin ist er 85 Jahre alt.

Immer an der Seite des Altmeisters: Ehefrau Olga. /Foto: Privat.

Was gibt Wladimir Fedossjeew die Kraft? Da fällt sein liebevoller Blick auf Olga. Olga ist seine Frau und, wo auch immer, stets nah an seiner Seite. Nur nicht während des Konzerts, versteht sich, aber in der ersten Reihe. „Wir sind schon seit Ewigkeiten verheiratet, ganz schön langweilig”, schmunzelt sie. Beide tanken ihre Energie gerne in der Natur, auf ur-russischer Erde. Am liebsten auf der Datscha im provinziellen Waldaj im Gebiet Nowgorod mit seiner beschaulichen Seenlandschaft. Das sei ganz wichtig für ihn. Denn seine so typisch russische, echte Freizeitbeschäftigung ist das Angeln. Aber dazu kommt er viel zu selten. Weil er eben unablässig als Botschafter klassischer Musik um den Globus tourt. Er pendelt zwischen der österreichischen Hauptstadt und seiner heimatlichen Kapitale und von dort nach Fernost und in alle anderen Himmelsrichtungen. Er meistert Proben und Auftritte immer noch im Schnitt an jedem dritten Tag im Jahr.

Das schafft er, weil er seinen inneren Frieden gefunden hat, den er, wie er sagt, aus seinen tief verankerten russisch-orthodoxen Wurzeln nährt. Und natürlich mit der Kraft aus der Musik. Da hält er fest zu Dostojewski – „Schönheit rettet die Welt“. Einen ganz persönlichen, frommen Wunsch hat er noch: „Alle Menschen sollen einander lieben.“

Frank Ebbecke 

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