Die große Politik und die kleinen Leute: Monolog eines russischen Wählers

Wie tickt der russische Wähler? Glaubt man dem offiziellen Ergebnis, hat er bei den Parlamentswahlen Mitte September die Regierungspartei „Einiges Russland“ weiter gestärkt und ansonsten an der Zusammensetzung der Duma wenig geändert. Die Wahlbeteiligung war niedrig, gerade in den großen Städten. Auch die MDZ ging auf Stimmenfang und lässt an dieser Stelle einen Wachmann aus St. Petersburg zu Wort kommen, der – noch vor den Wahlen – über die Parteien, die große Politik und ihren Auswirkungen auf die kleinen Leute sprach.

 

Wahlen

Frischer Wind? Die Regierungspartei „Einiges Russland“ hat seit den Parlamentswahlen noch mehr Macht. / Tino Künzel

Ich bin jetzt 57 Jahre alt. Wenn ich so zurückblicke, dann habe ich eigentlich ein gutes Leben gehabt. Es gibt nichts, was ich nicht gemacht hätte, war auf dem Bau, im Obsthandel. Mein Arbeitsbuch ist so dick wie „Krieg und Frieden“. In den 90ern hatte ich ein Café. Das war eine lustige Zeit, mit mehr Freiheiten als heute. Mir hat sie gefallen. Irgendwann sind Leute an mich herangetreten und wollten 100.000 Dollar dafür, dass ich den Laden weiterbetreiben darf. Ich habe denen gesagt: „Jungs, wo soll ich denn so viel Geld hernehmen?“ Da war ich das Café los.

Ich bin dann zehn Jahre Taxi gefahren, bis zu einem Verkehrsunfall 2009. Saß anderthalb Jahre im Rollstuhl, hatte Glück, dass irgendein Professor aus Moskau in der Stadt war und mich operiert hat. So bin ich wieder auf die Beine gekommen. Gegen den Unfallverursacher habe ich mit Erfolg geklagt, aber bis zum Urteil hat es vier Jahre gedauert. Mal war ein Wort in meinen Unterlagen falsch geschrieben, mal hatte sich eine Bestimmung geändert. Am Ende hat man mir 1,4 Millionen Rubel an Schadenersatz zugesprochen. Nun warte ich seit zwei Jahren darauf, dass die Gerichtsvollzieher das Geld eintreiben. Die Mühlen mahlen langsam bis gar nicht.

Aber wenn der Staat eine Steuernachforderung von 27 Rubel – je neun Rubel pro Familienmitglied – an mich hat, dann schickt er drei Briefe und macht es dringend. Bei genauerem Hinsehen hat sich später herausgestellt, dass nicht ich dem Staat Geld schulde, sondern er mir. Aber dafür hätte man beim Finanzamt mal in den Computer schauen müssen.

Russland ist ein gutes Land, nur wie man hier mit dem Volke umspringt, spottet jeder Beschreibung. Das war schon immer so, auch zu Sowjetzeiten. Damals hatten wir angeblich Sozialismus. Aber was ist das für ein Sozialismus, wenn es nichts zu kaufen gibt? Bei uns war ja sogar Wurst Mangelware. Und wenn mal irgendwo irgendetwas rausgehauen wurde, dann reichte die Schlange gleich einen halben Kilometer weit. Einmal ist meine Frau nachts nach Hause gekommen und hatte sich eine Zahl auf den Arm geschrieben: 1846. Ich frage sie: „Was hat das denn zu bedeuten?“ Sie: „Es sind finnische Overalls für Kinder eingetroffen. Ich habe mich eingetragen und bin die Nummer 1846 in der Reihe.“ Wie das überhaupt vor sich gehen sollte, wusste sie nicht. Aber mir war klar, dass es sich höchstens um 100 Teile handeln konnte und dass ein Großteil unter den Ladentisch wandert. Ich habe den Anzug dann auf anderen Wegen besorgt, ich hatte meine Kontakte. So lief das damals.

Heute sind die Geschäfte voll, man kann alles kaufen. Gleichzeitig ist aber auch die soziale Ungerechtigkeit gestiegen. Früher, in der Sowjetunion, war die herrschende Klasse zwar bessergestellt, aber doch nicht so wie jetzt. Ich bin nicht blöd, habe Augen im Kopf. Wozu gibt es Youtube? Zum Beispiel Vizepremier Schuwalow, ein Staatsbeamter. Verdient 200 Millionen Rubel im Jahr und hat ein Privatflugzeug für 50  Millionen Dollar. Oder Peskow, der Sprecher von Putin. Trägt eine Armbanduhr im Wert von 40 Mil­lionen Rubel. Wer bist du denn, dass du dir solche Reichtümer leistest? Kauf dir lieber eine russische Uhr. Obwohl: Werden überhaupt noch Uhren in Russland hergestellt? Was produzieren wir heutzutage schon noch!

Das Gefälle zwischen denen ganz oben und denen ganz unten ist absurd. Die Götter in unserer Regierung wissen doch gar nicht, wie es sich hier auf der Erde lebt. Mir tun besonders die Rentner leid. Da hat jemand 40 Jahre gearbeitet, seine Gesundheit ruiniert, und wird dann mit einer Rente von umgerechnet 100 Euro abgespeist. Wenn jemand 200 Euro hat, ist das schon viel. Meine Schwiegermutter arbeitet mit 80 Jahren noch, damit das Geld zum Leben reicht.

Okay, ich komme über die Runden. Mit den Einnahmen aus meinem Business habe ich seinerzeit noch zwei weitere Wohnungen gekauft. Eine habe ich meinem Sohn geschenkt, eine vermieten wir. Das bringt uns 20.000 Rubel im Monat ein, zusätzlich zu den 28 000 Rubel, also 400 Euro, die ich als Wachmann verdiene. Aber was ist mit denen, die solche Möglichkeiten nicht hatten? Die in den Fabriken gearbeitet und monatelang keinen Lohn gesehen haben, sozial abgestürzt sind?

Unser Volk hat, alles in allem, das Herz am rechten Fleck. Ist mit wenig zufrieden, nicht so leicht auf die Palme zu bringen. Aber im Moment machen wir wirklich schwierige Zeiten durch. Natürlich haut uns auch das nicht um, nur habe ich den Eindruck, dass man hier alle fünf Jahre eins über den Schädel gebraten bekommt. Fünf Jahre rappelt man sich auf, fängt an, sich des Lebens zu freuen, macht Pläne. Und dann kommt die nächste Krise.

Ich merke das an mir selbst. Früher konnte ich meine Frau und meine Tochter in den Urlaub nach Ägypten, Tunesien oder in die Türkei schicken, manchmal sogar zweimal im Jahr. Neuerdings lässt das die Haushaltskasse nicht mehr zu. Meine Tochter ist Synchronschwimmerin und mit ihren elf Jahren schon Kandidatin zum „Meister des Sports“, die Beste in ihrer Altersklasse bei uns in St. Petersburg. Sie träumt davon, einmal Olympiasiegerin zu werden, und ich bin immer für sie da. Diesen Sommer war sie im Trainingslager in Sotschi, erst in den Bergen, dann am Meer. Das hat 80.000 Rubel gekostet. Damit waren unsere Finanzen erschöpft.

Mein Sohn ist ebenfalls Sportler. Mit sechs Jahren hat er angefangen, Eishockey zu spielen, alle Altersklassen von unserem St. Petersburger Klub SKA durchlaufen, bis zur Juniorenmannschaft. Da hieß es plötzlich: Wenn du spielen willst, musst du zahlen. Damit war seine Profikarriere beendet, bevor sie richtig begonnen hatte. Und so ist das bei uns generell: Um voranzukommen, muss man die richtigen Leute kennen, im Zweifelsfall auch mal jemanden schmieren. Ohne Beziehungen kriegst du hier nicht mal eine halbwegs vernünftige Arbeitsstelle. Ohne Beziehungen geht überhaupt nichts. Das war früher so und ist heute nicht anders.

Ich bin in dieser Stadt geboren, in Leningrad, und konnte ohne sie einfach nicht leben. Wo auch immer ich war, mich hat es immer wieder hierher zurückgezogen. Die Leute sind von einem besonderen Schlage. Wenn du sie nach dem Weg fragst, dann kann es gut sein, dass sie dir sagen: „Kommen Sie, ich bringe sie hin.“ So etwas ist mir nirgendwo anders passiert.

Die Isaakskathedrale! Mir will nicht in den Kopf, wie man die damals gebaut hat. So etwas ist heute nicht in Ansätzen denkbar. Aber leider ist unserer Stadt viel von ihrer einstigen Aura abhandengekommen. Und nicht deshalb, weil sie inzwischen St. Petersburg heißt. Das war mal ein ruhiger Ort mit gemächlichem Tempo, wo die Menschen es nie eilig hatten. Von dieser Idylle ist nicht viel übriggeblieben.

Und jetzt diese lachhaften Wahlen. Putin gefällt mir, wenn ich ehrlich bin, aber er macht die Außenpolitik. Für die Innenpolitik ist Medwedew zuständig, soweit ich das verstehe. Aber es sieht eher so aus, als ob sich darum überhaupt niemand kümmert.

Die Wahlen gewinnt natürlich das „Einige Russland“, vor den anderen drei bisherigen Duma-Parteien. Das ist streng genommen alles eine Partei. An einem freien Tag habe ich mir auf Youtube angeschaut, was es dort zu den 14 gelisteten Parteien gibt, und keine gefunden, die mir zusagt. Nicht wählen zu gehen, ist aber auch keine Option, dann wird mit meiner Stimme womöglich noch Schindluder getrieben. Also stimme ich vielleicht am besten für eine kleine Partei. Die Leute vom „Einigen Russland“ sollen an der Stimmverteilung ruhig merken, dass die Bevölkerung sich so langsam von ihnen abwendet und man sie satt hat. Es muss sich etwas ändern: in der Industrie, in der Bildung oder im Gesundheitswesen – Handlungsbedarf ist überall. Aber solche „Stimmen des Volkes“ wie mich gibt es zuhauf. Nur ob sie etwas bewirken können, das steht auf einem ganz anderen Blatt.

Aufgeschrieben von Tino Künzel.

 

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