Von Hunden und Poeten

Rückblick: Was MDZ-Redakteure 2017 jenseits der Redaktion in Russland erlebten

Hund

2018 ist das Jahr des Hundes. Ein MDZ-Redakteur hat schon 2017 damit angefangen. /Foto: Pixabay

15 Minuten Ruhm

Kürzlich bin ich in Nordrussland von einem wilden Tier angefallen worden. Zum Glück war es kein russischer Bär, sondern nur ein etwas übermotivierter Straßenköter, der seinen Hof in einem nicht sehr gepflegten Wohnviertel gegen den Eindringling mit dem Fotoapparat verteidigen zu müssen glaubte.

Ich dachte, der kläfft nur. Da hatte ich ihn allerdings unterschätzt. Als ich ihm den Rücken zudrehte, schnappte der Vierbeiner mehrmals nach meiner Wade und war darüber augenscheinlich fast noch mehr erschrocken als ich. Es tat nicht besonders weh, weshalb ich erst nach einer Weile bemerkte, wie stark die Wunde blutete.

Ein bisschen Abwechslung

An einer Stelle sah es aus, als hätte sich eine Kugel ins Fleisch gebohrt. Dazu kamen zwei größere Kratzer. Anwohner waren sofort mit Desinfektionsmittel zur Stelle. Ein Freund brachte mich zur Notaufnahme der städtischen Poliklinik. Das Personal dort beäugte den ausländischen Patienten neugierig und freute sich wohl über das bisschen Abwechslung in seinem Dienst.

Meine Neugier war mindestens genauso groß und ich fühlte mich letztlich gut aufgehoben. Von der vorsintflutlichen Zettelwirtschaft abgesehen, mit der jeder Handgriff dokumentiert wurde, obwohl doch auch ein Computer auf dem Tisch stand, lief alles absolut vertrauenerweckend ab.

Gute Ratschläge

Ich wurde gegen Tollwut und zur Sicherheit auch gleich noch gegen Wundstarrkrampf geimpft und mit zahlreichen guten Ratschlägen entlassen. Eine kleine Notiz im Sozialnetzwerk VKontakte brachte anschließend lokale Medien auf meine Spur, sodass ich in der Folge drei Interviews geben musste und meine „15 Minuten Ruhm“ voll auskosten durfte.

Wegen der restlichen fünf Tollwutspritzen, die in bestimmten Abständen erfolgen müssen, toure ich seitdem durch medizinische Einrichtungen in Russland. Bezahlen musste ich bisher nirgendwo etwas, und interessante Einblicke sind das allemal, einem kleinen Wadenbeißer sei Dank.

Tino Künzel, Redakteur seit 2004

Grenzerfahrung

Ich weiß nicht genau, woher meine Leidenschaft für abgelegene Grenzorte kommt. Mich interessiert es einfach viel mehr, wie die Menschen an den oftmals vergessenen Rändern eines Landes leben als in den lauten Metropolen. Bevor ich im Mai zur MDZ kam, war ich deswegen oft an der deutsch-tschechischen Grenze unterwegs.

Auch das war manchmal ein Abenteuer, aber ich konnte zwischen den beiden Ländern spazieren gehen, ohne jemals einen Ausweis zu brauchen. Und durfte über die Grenze hüpfen, wann immer ich Lust dazu hatte. Im riesigen Russland riefen mich ebenfalls die Ränder. Deswegen fuhr ich im Sommer nach St. Petersburg, von wo aus ich zwei Städte erkunden wolle: Iwangorod an der estnischen und Swetogorsk an der finnischen Grenze.

Ein russisches Verhör

Der erste Ausflug hat auch problemlos geklappt. Der zweite endete nach drei Stunden Fahrt durch Wiesen und Wälder mit meinem ersten russischen Verhör. Bis Wyborg war ich mit dem Bus noch gekommen und in den kleineren und klapprigeren nach Iwangorod umgestiegen. Unterwegs gab es eine Kontrolle, weil wir uns der Grenze näherten.

Mein EU-Pass wurde wie schon in Iwangorod anstandslos akzeptiert. Ich hatte keine Zweifel, dass ich mich damit der EU nähern dürfte, schließlich könnte ich sie damit ja sogar betreten. Die Männer am zweiten Kontrollposten sahen das aber anders. Sie ließen mich aussteigen und den Bus weiterfahren. Dann stellten sie schwierige Fragen. „Was wollen Sie denn in Swetogorsk, da ist doch nichts? Mit welchem Ziel haben Sie Russisch gelernt?“

Puschkin im Original

Dass ich mir gern unbekannte Städte weit ab vom Schuss anschaue, kauften sie mir nicht ab. Und meine Motivation, ihre Sprache zu lernen auch nicht. „Aus Interesse. Ich habe osteuropäische Sprachen und Literaturwissenschaft studiert.“ – „Aber wozu?“ Immer wieder diese Frage, egal, was ich sagte. „Weil ich Puschkin im Original lesen möchte“, fiel mir irgendwann ein. Fast musste ich selber lachen. Die Herren telefonierten, ließen ihren Vorgesetzten anreisen. Der stellte nochmal dieselben Fragen, immer wieder.

Etwa drei Stunden vergingen, bis mir schließlich einer der Männer flüsterte, es werde wohl eine Strafe geben. „Eine kleine“, fügte er zwinkernd hinzu, bevor er mich fragte, ob ich verheiratet sei und ob er mich auf Facebook finden könne. Am Ende unterschrieb ich ein Protokoll und bekam eine Rechnung, weil ich mich Swetogorsk wohl nicht hätte nähern dürfen. Die Strafe war bezahlbar: 500 Rubel, umgerechnet nicht einmal acht Euro.

Corinna Anton, Redakteurin bis Dezember 2017

Marschrutka-Poet

„Finden Sie Schaganeh!”, haucht mich mein Sitznachbar in der Marschrutka überraschend an. Es ist halb sechs Uhr morgens, über den Straßen von Twer wird es langsam hell, während der städtische Minibus in Richtung Bahnhof ruckelt. Ich schaue dem alten Mann mit den dunklen Augen, grauen Haaren und der großen dicken Nase irritiert ins Gesicht, denn ich habe „Finden Sie Chardonnay!“ verstanden.

Wein? So früh morgens? Aber der Mann lächelt gutmütig, gar nicht alkoholisiert. „Suchen Sie Schaganeh! Persische Motive!“ Langsam dämmert es auch bei mir. Ich google mit dem Smartphone. „Jessenin?“, frage ich ihn noch immer verwirrt.

„Du meine Schaganeh!“

Der Mann nickt und lächelt zufrieden. Und beginnt den Dichter zu zitieren: „Schaganeh, Du meine Schaganeh! Weil ich aus dem Norden komme, oder nicht, bin ich bereit, Dir das Feld zu erzählen, von den Wellen der Ähren im Mondlicht. Schaganeh, Du meine Schaganeh!“ Ja, das ist Sergej Jessenin! Bis zum Bahnhof liegen noch etwa 15 Minuten Fahrt vor uns, eine poetische Viertelstunde mit den „Persischen Motiven“.

„Ein Kuss hat keine Bezeichnung, ein Kuss ist kein Schriftzug auf dem Grab. Ein Kuss mit roter Rose glüht und taut auf den Lippen Blüten.“

„Manchmal störe ich grob“

„Warum lesen Sie den Leuten Gedichte vor?“, frage ich gegen Ende unserer Fahrt. Zu schön waren die weichen Verse inmitten von grauen, müden Arbeitergesichtern und in einem klappernden Bus, der sich in jedes Schlagloch legt. „Ja, warum denn nicht? Mir gefallen sie und den Leuten meist auch“, lächelt mein poetischer Nachbar.

Manchmal, so sagt er, liest er auch laut für den ganzen Bus. Aber nicht so früh morgens. Als wir uns der Haltestelle am Bahnhof nähern und aussteigen müssen, fügt er noch mit breitem, beseeltem Lächeln hinzu: „Jaja, manchmal störe ich da schon grob!“ Mich darf er auch im nächsten Jahr gerne wieder stören.

Peggy Lohse, Redakteurin bis September 2017

Eine wichtige Aufgabe

Seit vier Monaten arbeite ich nun schon in einer ganz gewöhnlichen Grundschule in der Stadt Schukow im Gebiet Kaluga. Ich unterrichte Deutsch, Englisch und das Fach „Mensch und Umwelt“. Jeden Tag kommen etwa hundert Schüler in mein Klassenzimmer, um etwas zu lernen. Nach sieben Unterrichtsstunden sehe ich aus wie eine ausgepresste Zitrone oder wie der inspirierte und in Sandalen umherirrende Götterbote Hermes.

Es ist ein sehr energieraubender Job, aber am Ende jedes Arbeitstags, wenn ich mein Klassenzimmer abschließe, habe das Gefühl, dass ich etwas Wichtiges gemacht habe. Bevor ich dort anfing, gab es an der Schule keinen Deutschunterricht. Es stellte sich heraus, dass ich die Erste war, die den Kindern in Schukow von einem Land namens Deutschland erzählte, die ihnen die deutsche Sprache und Kultur näherbrachte.

Offen für neue Bilder

Meine Schüler haben noch nicht die weit verbreitete Vorstellung, dass Deutsch eine raue, „soldatische“ Sprache sei, weil diese Generation noch keine Kriegsfilme gesehen hat. Die Kinder sind offen für neue Bilder und Ideen. Und ich bin glücklich, dass ich der Mensch bin, der sie in dieser Hinsicht prägen kann.

An der Schule bin ich durch „Lehrer für Russland“ gelandet. Mit diesem Programm werden Absolventen führender russischer Universitäten als Lehrer für Allgemeinbildende Schulen in den Regionen gewonnen. Das sind sowohl Experten mit pädagogischem als auch mit nicht-pädagogischem Hintergrund. Wir werden innerhalb von zwei Jahren zu Lehrern und unterrichten dort, wo die Kinder inspirierende Lehrer besonders dringend brauchen.

Anastassija Buschujewa, Redakteurin bis Juli 2017

Wie ein bunter Hund

Ich habe in diesem Jahr zwei Experimente unternommen. Mit dem ersten habe ich mir einen Kindheitstraum erfüllt. Fast jedes Mädchen träumt davon, sich einmal die Haare zu färben. Ich habe ziemlich strenge Eltern und solange ich zur Schule ging, gab es darüber überhaupt keine Diskussion. Als ich dann studierte, hatte ich für eine solche Prozedur einfach keine Zeit.

In diesem Sommer wurde ich 25 Jahre alt, da habe ich mir gesagt: Entweder ich färbe mir die Haare jetzt oder nie. Einen Tag vor meinem Geburtstag habe ich es tatsächlich getan. Zuerst hellte ich meine Haare mit einem Mittel auf, dann färbte ich sie leuchtend pink.

Ein Star in der Metro

Der Effekt war enorm. Ich war ein „Star“ in der Metro. Plötzlich überließen mir sogar Leute ihren Sitzplatz. Meiner Mutter gefiel meine neue Haarfarbe, meine Schwester sagte, dass sie mit mir so nirgends hingehen werde. Und meine Oma fragte, wie lange die Farbe hält. Danach färbte ich mir die Haare noch blau.

ittlerweile ist nur noch eine leichte Tönung davon übrig. Vor Neujahr werde ich das Experiment beenden. Ich werde zum Frisör gehen, damit er meine Haare „rettet“, denn die Farbe macht sie mir sonst ganz kaputt.

Ein russischer Rapper

Mein zweites Experiment war ein kulturelles: Ich habe in diesem Jahr zum ersten Mal ein Konzert des Rappers Oxxxymiron besucht. Er hat für einen russischen Rapper eine zielich außergewöhnliche Biografie. Er ist Absolvent der Universität Oxford, der keine Arbeit fand (!) und unter russischen Immigranten in London lebte. Heute ist er ein Star in der russischen Rapper-Szene und seinen Auftritt in Moskau zu verpassen, wäre eine Schande gewesen.

Zum Konzert auf dem Olympia-Sportgelände kamen 22 000 Menschen, die alle (außer mir) die Texte seiner Lieder auswendig kannten. Es war toll, lustig und er sang sogar meine Lieblingslieder. Ich hoffe, dass ich von diesem Erlebnis irgendwann meinen Kindern und Enkeln erzählen kann.

Ljubawa Winokurowa, Redakteurin seit August 2017

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