Verlängerung mit Golden Goal

Weil sie bald auslaufen, musste die EU ihre Sanktionen gegen Russland verlängern. Doch die Diskussion um eine Exit-Strategie ist damit keineswegs beendet. Während der Kreml weiter eine Unschuldsmiene aufsetzt und Kiew Däumchen dreht, geben die EU-Chefs allen Rätsel auf.

Von Bojan Krstulovic

Donezk im Juni: Die Separatisten lassen Unterschriften sammeln gegen die „Nichtbefolgung“ einer Resolution des UNO-Sicherheitsrats durch die Ukraine. Die Resolution vom 17. Februar 2015 rief alle Seiten zur Umsetzung des Minsker Abkommens auf / RIA Novosti

Donezk im Juni: Die Separatisten lassen Unterschriften sammeln gegen die „Nichtbefolgung“ einer Resolution des UNO-Sicherheitsrats durch die Ukraine. Die Resolution vom 17. Februar 2015 rief alle Seiten zur Umsetzung des Minsker Abkommens auf / RIA Novosti

Am 21. Juni verkündeten westliche Medien, dass die Europäische Union ihre Wirtschaftssanktionen gegen Russland um ein weiteres halbes Jahr verlängern werde. Dazu hätten sich die EU-Botschafter der 28 Mitgliedstaaten bei ihrem Treffen am selben Tag geeinigt. Der spätere offizielle Beschluss sei nur noch Formsache. In russischen Zeitungen stand diese Meldung am folgenden Tag neben den Erinnerungen an den 22. Juni 1941, dem Tag des Überfalls des Dritten Reiches auf die UdSSR. Immerhin konnten die viel wichtigeren TV-Sender die Nachricht schon am Vorabend verarbeiten.

Alles in Allem wurde sie in Russland jedoch ohne Aufregung zur Kenntnis genommen. Kurz zuvor hatte Premierminister Medwedew die russischen Gegensanktionen vorsorglich bis Ende 2017 verlängert. Die EU-Politiker sind in einer weniger komfortablen Situation: Weil sie ihre Sanktionen anfänglich mit einer „Lebensdauer“ von sechs Monaten versahen, stehen sie jedes halbe Jahr im Rampenlicht der Öffentlichkeit und damit unter Rechtfertigungsdruck. Das hätten sich Befürworter der Sanktionen im Nachhinein sicherlich gerne erspart. Ohnehin sollte es bei bestehendem politischen Willen möglich sein, die Sanktionen zu jedem Zeitpunkt zurückzufahren. So verspricht Moskau, seine Gegenmaßnahmen umgehend anzupassen, sobald ihm die Gegenseite auf selbe Weise entgegenkommt.

Unabhängig von der turnusmäßigen Verlängerung, schwelt jedoch aufseiten der EU eine Diskussion über einen Ausweg aus dem Sanktionskreislauf. Seit März 2015 galt die klare Sprachregelung, dass die vollständige Umsetzung des Minsker Protokolls die notwendige Bedingung dafür ist, dass die EU ihre im Juli 2014 verhängten Russlandsanktionen aufhebt (außen vor bleiben dabei stets die älteren Maßnahmen gegen die Krim). Im Kreml musste man nicht lange nach einer eigenen Sprachregelung suchen: Die Ukraine erfülle nicht ihre eigenen Verpflichtungen aus dem Minsker Protokoll, und Russland werde dafür bestraft. Außerdem behauptet man in Moskau einerseits gerne, dass man nicht Konfliktpartei sei und der Friedensprozess zwischen Kiew und den Separatisten ausgehandelt werden müsse; andererseits weist man darauf hin, dass auch Frankreich und Deutschland als „Garanten“ des Abkommens in der Pflicht stünden. Beides ist mehr als fragwürdig (siehe Infokasten), der Fingerzeig auf die Untätigkeit Kiews hingegen wurde von Monat zu Monat überzeugender – je länger sich Parlament und Präsident der Ukraine unfähig oder unwillig zeigten, den Friedensprozess voranzubringen.

Seit einigen Wochen mehrten sich daher die Stimmen, die einen anderen Ausweg aus den Sanktionen für zielführender halten. Ende Mai sprach sich auch der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier gegen die bisher geltende „Alles-oder-Nichts“-Regelung aus, wenig später stimmte der französische Senat für eine schrittweise Aufhebung der Sanktionen, je nach Fortschritt der Umsetzung des Minsker Abkommens. Zuletzt reihte sich noch der österreichische Chefdiplomat Sebastian Kurz in die Reihe der Unterstützer dieser Variante ein – mehr oder weniger eindeutig haben sich auch Italien, Griechenland, Ungarn und die Slowakei für eine Lockerung der Sanktionen ausgesprochen. Bratislava übernimmt am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft. Der slowakische Außenminister Miroslav Lajcak kündigte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters an, dass es auch nach einer Verlängerung der Sanktionen in dieser Frage einen wachsenden Bedarf nach politischen Diskussionen gebe. Damit nicht einverstanden sind unter den EU-Mitgliedern vor allem Polen, Schweden, die drei baltischen Staaten und Großbritannien.

Ausgerechnet die beiden wichtigsten Länder, Deutschland und Frankreich, folgen in dieser Frage keiner klaren Linie. Bundeskanzlerin Merkel ist bisher öffentlich nicht von der „Alles-oder-Nichts“-Formel abgewichen, wie etwa ihr Außenminister und auch Vizekanzler Sigmar Gabriel. Frankreichs Präsident Francois Hollande scheint noch eine dritte, bisher kaum ausgesprochene Exit-Strategie aus den Sanktionen im Kopf zu haben. Nach seinem Treffen mit Poroschenko am 21. Juni in Paris sagte er: „Wenn die Minsker Vereinbarungen vollständig erfüllt sind, ist ein schrittweises Aufheben der Sanktionen denkbar.“ Mitbekommen oder ernst genommen hat das jedoch so gut wie niemand.

 

Info

Unterzeichner und Unterstützer von Minsk

Das „Minsker Protokoll (von Februar 2015) zur Umsetzung des Minsker Abkommens (von September 2014)“ umfasst dreizehn Maßnahmen, in denen nicht ausgesprochen ist, wer genau sie ergreifen soll. Das Dokument trägt vier Unterschriften: je eines Vertreters der beiden Separatisten-Gebiete, des ukrainischen Ex-Präsidenten Leonid Kutschma, des russischen Botschafters in Kiew und der damaligen OSZE-Botschafterin Heidi Tagliavini.
In einer separaten Erklärung versichern die Staatsoberhäupter Deutschlands, Frankreichs, der Ukraine und Russlands dem Ganzen ihre Unterstützung und ihr „Commitment“.

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