Seeluft und Lavendelduft: Ein Tag im Sanatorium

Was geschieht eigentlich in einem klassischen russischen Sanatorium? Ein Selbstversuch mit wohltuenden Aromen, jeder Menge Kurklatsch und Entspannen auf Kommando.

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Das Gorki-Sanatorium am Moskauer Stadtrand empfängt mit einem beeindruckenden Portal. /Foto: Corinna Anton

7.30

Morgenstimmung im Sanatorium, das den Namen des Schriftstellers Maxim Gorki trägt. Aus den Zimmern riecht es nach Früchtetee, durch die dünnen Wände dringt gedämpftes Husten in die Gänge. Eine Schwester dreht ihre Runde bei denen, die beim Aufstehen Hilfe brauchen. „Vergessen Sie Ihre Tabletten nicht!“ Ihr Mahnen kann lebenswichtig sein, denn das Kurhaus, etwa 30 Kilometer vom nordöstlichen Moskauer Stadtrand entfernt, ist auf Herzpatienten spezialisiert, die sich hier auf ärztliche Anweisung drei Wochen erholen. Sie haben zum Beispiel eine Operation oder einen Infarkt hinter sich oder leiden an Bluthochdruck. Man kann aber auch freiwillig kommen, als Selbstzahler, und sich zwischen Wassergymnastik und Schlammpackungen eine Weile erholen.

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Der Tag beginnt mit Frühsport. /Foto: Corinna Anton

8.00

Wem es der Doktor nach der Aufnahmeuntersuchung erlaubt hat, der macht sich vor dem Frühstück auf den Weg in die Turnhalle. „Eins, zwei, drei, vier – eins, zwei, drei, vier“, tönt es dann fast eine halbe Stunde beim Frühsport. Gemütliches Gehen im Kreis, auf Zehenspitzen, auf den Fersen. Dehnen, Strecken, Balancieren. Manche Gäste entwickeln dabei sportlichen Ehrgeiz, andere bewegen sich nur so viel sie unbedingt müssen, um nicht aufzufallen. Danach werden alle gewogen: „65 ilo. Und wie viel war es gestern?“, will die Krankenschwester von einer Dame mit Leoparden-Leggins wissen. Die Menschen in der Schlange hinter ihr hören aufmerksam zu.

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Auf dem Weg zum Speisesaal. /Foto: Corinna Anton

9.00

Frühstückszeit im dunklen Speisesaal mit der niedrigen Decke. Es riecht nach Fleisch und Groß-küche. Am Tisch mit der Nummer 41 haben sich bereits drei Seniorinnen eingefunden, um ihre Pläne für den Abend auszutauschen. Es werde ein Konzert geben, weiß eine betagte Dame aus Jakutsk. Überhaupt sind im ganzen Saal überwiegend ältere Frauen zu sehen. Der Altersdurchschnitt der Kurgäste liegt bei 77 Jahren, etwa 60 Prozent sind weiblich. Auf den Teller kommen geschmacksneutraler Buchweizenbrei, weichgekochte Nudeln und Hackfleischbällchen.

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Eines von vielen Geräten, auf die man im Gorki-Sanatorium besonders stolz ist. /Foto: Corinna Anton

10.00

Untersuchungen, Sprechstunden, Behandlungen: 16 Ärzte und etwa doppelt so viele Krankenschwestern kümmern sich im Gorki-Sanatorium um bis zu 200 Patienten. Manche müssen jeden Tag ans Elektrokardiogramm, andere nur bei der Aufnahme- und Abschlussuntersuchung. Bei ersterer wird der persönliche Kurplan erstellt, von da an gibt das „Sanatoriums-Büchlein“ den Takt vor. Darin sind alle Termine bei Ärzten und Therapeuten notiert, und auch, ob die Patienten an Ausflügen teilnehmen dürfen.

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Die Heiligen(bildchen) wachen über den Ablauf. Ein Schild bittet um Ruhe. /Foto: Corinna Anton

11.00

In der Abteilung für Physiotherapie herrscht Hochbetrieb. Wer in den Massagesessel darf, dem verpasst eine kräftige Krankenschwester zunächst eine blaue Haube, einen Einweg-Schutzkittel und Überzieher für die Füße. Damit könnten Patienten eine Intensivstation betreten, aber hier heißt es auf Kommando: Und jetzt entspannen Sie sich! Helfen soll barocke Musik aus dem Radio, Beistand leistet ein Heiliger, dessen Bild hinter dem Vorhang auf dem Fensterbrett steht. Der Sessel massiert mal sanft, mal ziemlich grob Rücken, Füße und Waden, bis zur totalen Muskelentspannung.

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Hier und da hat der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen. /Foto: Corinna Anton

12.00

Erholen von der Erholung in der Mittagssonne. Das Sanatorium ist von einem großen Park mit jahrhundertealten Bäumen umgeben. Mit seinem strahlend weißen klassizistischen Eingangsportal sieht es aus wie ein Kurhaus aus dem Bilderbuch. Geht man einmal um den länglichen Komplex herum, merkt man aber auch, dass die Zeit ihre Spuren hinterlassen hat. Eröffnet wurde die Anlage 1925 als Ferienhaus auf einem ehemaligen Gutsgelände, das bis zur Revolution einem Fabrikanten gehört hatte. Im Laufe der Jahre haben sich hier Arbeiter, Bauern und Soldaten der Roten Armee erholt. Heute bröckelt hier und da der Putz. Auch drinnen verstrahlen manche Möbel und Geräte eher den Charme längst vergangener Jahrzehnte. Dafür sind die Zimmer zum Teil mit Flachbildfernseher und großem Kühlschrank ausgestattet, die Fenster neu, und auch das WLAN funktioniert tadellos.

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Sandur umdrehen und dann bitte schnellstens entspannen! /Foto: Corinna Anton

12.30

Lavendelbad. Mit Badeanzug und Badekappe steigen die Patienten in die Wannen, die von den Krankenschwestern genau nach Vorschrift befüllt werden: 200 Liter Wasser, 36 Grad, dazu wohltuende Essenzen, Meersalz. Die große Fensterfront lässt die Blicke der Badenden in den Park schweifen, wenn sie nicht die Augen schließen und ein Nickerchen machen. Am Wannenrand steht eine Sanduhr, wer Glück hat, darf sie nach den ersten zehn Minuten noch einmal umdrehen und weiterträumen. Die Wannen mit Unterwasser-Massage-drüsen fassen sogar 300 Liter und sollen für einen „positiven Effekt auf die Figur“ sorgen, erklärt eine Schwester.

13.00

Eine kleine, weiße Kammer. In der Mitte stehen Plastikgartenstühle, darauf nimmt eine Handvoll Patienten Platz, um mit geschlossenen Augen tief ein- und auszuatmen. Vom Band kommt Gitarrenmusik und Vogelgezwitscher. Eine Maschine erzeugt salzige Seeluft. Das merkt man allerdings nur, wenn man mit der Zunge über die Lippen fährt. „Welchen Tag haben wir eigentlich heute“, fragt der einzige Mann im Raum in die Runde. Man einigt sich nach kurzer Debatte auf Dienstag.

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Auf den Teller kommt viel Fleisch – in allen möglichen Variationen. /Foto: Corinna Anton

14.00

Dicke Gemüsesuppe, Borschtsch und Hühnerkeulen mit Kartoffeln warten im Speisesaal. Davor kann man an einem Verkaufstisch kleine Küchenmesser, Korkschlappen oder Kniebandagen erstehen. Wenn man sein Geld nicht am Vormittag schon bei einer Kosmetikerin, die im Aufenthaltsbereich ihr Sortiment ausbreitete, für Nagellack oder Make-up ausgegeben hat. Mehr Interesse als der Händler zieht auf dem Rückweg vom Speisesaal allerdings ein Herr auf sich, der es sich draußen auf einer Bank bequem gemacht hat: Mit nacktem Oberkörper liegt er in der Sonne. Drinnen stehen die Frauen am Fenster und schieben den Vorhang beiseite. Sie kichern und schauen ihm beim Bräunen zu.

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Pause im Park / Foto: Corinna Anton

16.00

Freies Schwimmen. Wer ins 28 Grad warme Wasser will, muss erst das Verhör der zuständigen Schwester überstehen:„Haben Sie Seife dabei? Badeanzug? Badekappe? Badeschlappen? Können Sie gut schwimmen?“ Anschließend wird ein Spaziergang im Park empfohlen.

17.00

Kaffee, Kuchen und Kurklatsch. „Wissen Sie, wer die Dame war, die gestern mit den Stöckelschuhen und dem dick aufgetragenen Lippenstift durch den Park lief? Und was ist mit Ihnen, sind Sie verheiratet, haben Sie Kinder?“

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Höhepunkt beim Abendessen /Foto: Corinna Anton

19.00

Beim Abendessen werden wieder hauptsächlich Fleisch und Kohlenhydrate verzehrt. Der Höhepunkt ist ein kurzer Auftritt eines jungen Mannes mit Gitarre. Er stimmt das Lied „Am Samowar“ an und es gibt kaum jemanden, der nicht zumindest die Lippen bewegt. Doch schon nach dem zweiten Stück ist Schluss. Wer mehr hören möchte, muss später zum Konzert kommen.

20.00

Konzert im Kinosaal. Nach der Begeisterung beim Essen ist das Publikum ein überraschend kleiner Haufen. Die meisten haben sich wohl die Karte für umgerechnet rund drei Euro gespart und sich auf ihre Zimmer zurückgezogen, während der junge Mann von schwarzen Augen, schönen Mädchen und ewiger Liebe singt. Wahrscheinlich schonen sie ihre Kräfte für den nächsten Tanzabend, wenn wieder Walzer und Tango auf dem Programm stehen.

21.30

Als Schlaftrunk wird ein Glas Kefir gereicht. Dann verschwinden die Patienten schnell in ihre Zimmer, wo es schon still wird, bevor um 23 Uhr die offizielle Bettruhe einkehrt.

Corinna Anton

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