Russland fehlt eine Strategie: Moskauer Wirtschaftsforum übt scharfe Kritik an der Regierung

Anfang April kamen Experten und Interessierte in der Akademie der Wissenschaften zum 6. Moskauer Wirtschaftsforum zusammen, um zwei Tage lang über Gegenwart und Zukunft der russischen Wirtschaft zu debattieren. Geprägt waren die Diskussionsrunden von überwiegend kritischen Tönen.

Forum

Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Pawel Grudinin war auf dem Forum ein gefragter Gast. /Foto: Daniel Säwert

Wie geht es Russlands Wirtschaft? Wo steht sie im internationalen Vergleich und welche Entwicklungen wird es geben? Das waren die großen Fragen, mit denen sich Anfang April 2000 Interessierte und Experten auf dem 6. Moskauer Wirtschaftsforum zum Thema „Russland und die Welt: Ein zukünftiges Bild“ befassten. Das von Wirtschaftswissenschaftler Ruslan Grinberg initiierte Forum gilt als die Plattform in Russland, auf der Probleme so offen wie nirgendwo anders angesprochen werden.

Neben der geopolitischen Lage und der damit verbundenen Frage nach einer Isolation Russlands sowie einem möglichen neuen Kalten Krieg galt das Interesse vieler Teilnehmer der aktuellen wirtschaftlichen Situation in Russland und den Perspektiven ihrer Entwicklung.

Russlands Wachstums hinkt weit hinterher

Die Mehrheit der Experten sparte nicht an Kritik. Wladislaw Schukowskij, Chefanalytiker der Investmentfirma „Rikom-Trust“, etwa sprach von einem „verlorenen“ Jahrzehnt, dass Russland hinter sich habe. Während die weltweite Wirtschaft in diesem Zeitraum um 28 Prozent wuchs, waren es in Russland lediglich 4,5 Prozent. Und dieses Wachstum beruhe ausschließlich auf dem gestiegenen Ölpreis.

Der Schuldige für diese stagnierende Situation war für die Anwesenden schnell identifiziert – der russische Staat. Genauer gesagt, dessen Unwillen zu Reformen. Boris Titow, Bevollmächtigter des Präsidenten zum Schutz der Unternehmer, bemängelte, dass es Russland an einer langfristigen Entwicklungsstrategie fehle, obwohl die rechtlichen Voraussetzungen dafür gegeben seien. Dies sei einmalig in der Welt. Eine Strategie, an der man sich orientieren könne, sei jedoch genau das, was sich Unternehmer und Bevölkerung wünschten.

Am Geld mangelt es nicht

Mehrere Redner stellten klar, dass es in Russland nicht an Geld mangele, um die Wirtschaft zu stimulieren. Allerdings werde dieses falsch eingesetzt. Gewinne, oft genug mit staatlichem Geld erwirtschaftet, würden in vielen Fällen in ausländische Währungen oder Produkte fließen, anstatt zur Förderung der russischen Wirtschaft genutzt zu werden. Insgesamt hätten in den letzten zehn Jahren 680 Milliarden US-Dollar Russland verlassen, nur ein Bruchteil sei wieder zurückgeflossen. Gleichzeitig sank das Volumen der Investitionen im Inland, erklärte Wladislaw Schukowskij.

Ein weiterer großer Kritikpunkt des Forums  war die starke Verflechtung zwischen Staat und Wirtschaft. Der Leiter des Wirtschaftssenders „Zargrad“ Jurij Pronko meinte, dass ein großer Teil der Beamten momentan auch in der Wirtschaft tätig sei. Dies müsse sich unbedingt ändern: entweder Staatsdienst oder Privatwirtschaft, so die Forderung Pronkos. Denn ohne eine Entflechtung könne sich keine starke Privatwirtschaft entwickeln.

Russland braucht neue Prioritäten

Der Agarunternehmer und ehemalige Präsidentschaftskandidat der Kommunistischen Partei Pawel Grudinin sprach davon, dass Russland sich nach der Wahl, auch notgedrungen, an der Schwelle zu großen Reformen befinde. Werden diese nicht richtig angegangen, befürchtet Grudinin, dass  Russland sich sogar zurückentwickeln könnte. Daher, so seine Forderung, müsse die russische Politik ihre Prioritäten neu setzen und verstärkt in die Bildung investieren. Dadurch könne die Wissenschaft wieder attraktiv werden und enger mit der Wirtschaft zusammenarbeiten. Ziel müsse es sein, Russland zu einem attraktiven Standort zu machen und die stark angewachsene Abwanderung gut ausgebildeter und kreativer Köpfe der letzten Jahre zu stoppen.

Daniel Säwert

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