Revolution im Klassenzimmer

Gesellschaftliche Initiativen sind in Russland unterentwickelt. Das nichtstaatliche Projekt „Ein Lehrer für Russland“ zeigt dagegen, dass es auch anders geht: Mit hochqualifizierten Quereinsteigern soll die russische Schulbildung wieder aufleben.

„Lehrer für Russland“: Teilnehmer, die gute Lehrer werden wollen. / Iwan Jewofejew

„Lehrer für Russland“: Teilnehmer, die gute Lehrer werden wollen.
/ Iwan Jerofejew

Von Anastassija Buschujewa

Ein junger und erfolgreicher Moskauer, der eine angesehene Hochschule abgeschlossen und einige Jahre bei internationalen Konzernen gearbeitet hat, packt seinen Koffer. Den meisten Raum darin nehmen Bücher ein. Die Reise geht nicht in den Urlaub, sondern in die russische Provinz. Wenn am 1. September das neue Schuljahr beginnt, macht sich Stanislaw Jankewitsch zu einer allgemeinbildenden Schule im Gebiet Kaluga auf, um Geschichte und Gesellschaftslehre zu unterrichten. Er nimmt an dem Projekt „Ein Lehrer für Russland“ teil, das von der Sberbank, einigen Hochschulen und dem Bildungsministerium des Gebiets Moskau unterstützt wird und Spezialisten wie Stanislaw an die Schulen bringen will, um diesen neues Leben einzuhauchen.

Gegenwärtig sind alle unzufrieden mit den russischen Schulen: Schüler, Eltern und auch die Lehrer. Der Unterricht ist entweder ineffizient oder überfordert die Kinder. Das 2015 angelaufene Programm soll das ändern: In ihm bereiten die besten Pädagogen des Landes Top-Absolventen von nicht-pädagogischen Studiengängen auf das Lehrersein vor. Anschließend werden sie an Mittelschulen in den Städten oder in der Provinz geschickt. „Das ist eine Tätigkeit, die dein Leben verändert wie auch die Gesellschaft, in der du lebst“ – so das Motto des Programms. Stanislaw kommt in seinem zweiten Programmjahr an eine Schule mit vielen Kindern aus Roma-Familien. Sie bleiben in der Regel höchstens vier Jahre auf der Schule, dann beginnt für sie früh das Leben der Erwachsenen. Wenn es gelingt, sie länger an der Schule zu halten, ist das bereits ein Gewinn.

Dank „Ein Lehrer für Russland“ haben mittlerweile 42 der „neuen Lehrer“ – so der Name der Ausbildung – ein ganzes Schuljahr absolvieren können. Im gesamtrussischen Maßstab ist das freilich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und doch lässt sich ein Aufschwung des Lehrerberufs in Russland beobachten. An den Universitäten, wo gerade die Studienplätze vergeben wurden, ist die Pädagogik unter Erstsemestern wieder beliebt, resümierte das Bildungsministerium in seiner Bilanz der Immatrikulationsphase. Die Pädagogik falle unter die drei beliebtesten Studienrichtun-gen, neben dem Ingenieurwesen und der Medizin.

Auch Lehrer und Schuldirektoren stellen fest, dass ihr einst unpopulärer Beruf wieder in Mode kommt und sein Ansehen steigt. Maja Majsuradse, Leiterin der Moskauer Schule Nr. 554, an der im vergangenen Schuljahr „Lehrer für Russland“ unterrichteten, sieht das als Folge davon, dass die russische Politik dem Sozialen insgesamt mehr Aufmerksamkeit schenke. Allerdings erreichten die Segnungen dieser neuen Politik ihre Schule nur langsam. Die größte Aufgabe ist für Majsuradse, sich vom sowjetischen Unterrichtsstil zu verabschieden.

Lehrer

Geschichtslehrer Stanislaw. / Viktor Bergart

Nicht immer finden die jungen Quereinsteiger von „Ein Lehrer für Russland“ einen Zugang zu den anderen Lehrern an ihren Einsatzorten – zu fremd ist ihr moderner Ansatz, die Arbeit mit den Kindern an humanistischen Methoden auszurichten. Stanislaw ist nach seinem ersten Jahr mit einer 9. Klasse zu dem Schluss gekommen, dass der traditionelle Frontalunterricht für die meisten Probleme verantwortlich ist. Die Kinder säßen teilnahmslos in den Klassen und müssten aus Büchern lernen, die den Stoff lebensfremd darstellten. Der Zweck des Ganzen sei nicht, den Kindern etwas beizubringen, das für das Leben nützlich ist, sondern sie ein Rating-System durchlaufen zu lassen. Daher seien die Lehrer einem großen Druck ausgesetzt, den sie an ihre Schüler weitergäben – am Ende seien sie alle Gefangene des Systems.

Stanislaw will seine Klassen anders leiten. „Für mich ist der emotionale Kontakt mit den Kindern wichtig. Wenn ich zum Beispiel am Frauentag für die Schülerinnen Plätzchen backe und ihre Namen da rauf schreibe, sind sie gerührt, dass jemand etwas speziell für sie macht. An den Schulen müsste es mehr Gutherzigkeit geben.“ Auch beim Unterricht will Stanislaw andere Wege gehen: Die Medizin im Mittelalter vermittelt er zum Beispiel anhand von Kunst und Literatur wie Boccaccios „Dekameron“ oder dem Gemälde „Triumph des Todes“ von Breughel dem Älteren. Die Klasse behandelt dabei die Kunstwerke als historische Quellen, die es zu entschlüsseln gilt.

In diesem Jahr gibt es 88 neue Teilnehmer des Projekts. Gelingt es ihnen, die russische Schulbindung spürbar zu verändern? Auf jeden Fall setzen sie mir ihrem Engagement ein Zeichen, dass ein guter Lehrer mehr aufweisen muss als ein pädagogisches Diplom. Der Beruf wird nicht nur immer attraktiver für die Russen, es setzt sich die Einsicht durch, dass Bildung und Ausbildung auch für Lehrer niemals abgeschlossen sind.

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