Geheimtipp Galitsch: Endlich wieder Land sehen

Nicht alle Ausländer wussten die Schönheit von Galitsch zu schätzen. Polnisches Militär hat die Kleinstadt Anfang des 17. Jahrhunderts verwüstet. Heute ist sie russische Provinz, wie man sie sich gern gefallen lässt: malerisch gelegen, mit allerlei Zeugnissen früherer Geltung und ansonsten angenehm gelassen. Ein Geheimtipp für einen Wochenend-Ausflug.

Galitsch

Schon für diese Aussicht lohnt sich der Weg: Blick vom Baltschug-Hügel über den Galitschsee. / Tino Künzel

Als der Zug sich dem Bahnhof von Galitsch nähert, recken die Passagiere, verschlafen noch, die Hälse. In Moskau sind sie im Dunkeln abgefahren, gegen Mitternacht, jetzt ist ein neuer Tag angebrochen, obwohl der Blick aus dem Fenster zu der Annahme verleiten könnte, man träume noch. Draußen schmiegen sich Bauernhäuser so idyllisch ans Ufer eines Gewässers, als habe Lewitan, der gefeierte russische Landschaftsmaler, seinen Pinsel angesetzt. „Da hinten, das ist sicher die Wolga“, mutmaßt eine Frau. Man schaut sich suchend um: Wer kennt sich hier aus, wen kann man fragen? Und wo sind wir überhaupt? Der eine oder andere gleicht den Fahrplan im Waggon mit der Uhr ab. Aha, Galitsch also. Nie gehört.

Der halbstündige Zwischenhalt wird genutzt, um sich auf dem Bahnsteig die Beine zu vertreten oder im Bahnhofsimbiss einen Happen zu essen. Dann geht es für fast alle weiter: nach Kirow, Jekaterinburg oder gar nach Wladiwostok, zu den großen Zielen entlang der Transsibirischen Eisenbahn, an der auch Galitsch liegt, das jedoch eine Momentaufnahme auf der Durchreise bleibt. Dabei lohnt es sich durchaus, hier zu verweilen. Wer dafür eines Autoritätsbeweises bedarf, bitteschön: Am 14. Oktober 1824 hat seine kaiserliche Majestät Alexander I. bei einem Besuch der sogenannten östlichen Gouvernements auch in Galitsch Station gemacht – unter „Hurra“-Rufen der Bevölkerung und bei Glockengeläut im gesamten Ort. So steht es auf einer Gedenktafel an einer der zahlreichen Kirchen, von denen dem größeren Teil allerdings bis heute die sowjetische Religionsverfolgung anzusehen ist. Wie die Stippvisite des Zaren sind dennoch auch sie Zeugen einer ehrwürdigen Geschichte, die man der Kleinstadt mit ihren 17.000 Einwohnern nicht zutrauen würde.

Um nicht falsche Erwartungen zu wecken: Galitsch hat keine Sehenswürdigkeit zu bieten, die eine Übernachtfahrt von Moskau rechtfertigen würde – keinen Kreml, kein Schloss oder Museum, das in Russlandreiseführern beschrieben wäre. Wenn man so will, ist die Stadt selbst eine Sehenswürdigkeit, in der das Auge sich nicht sattsehen kann an ländlichen Panoramen und der Moskauer sich müdeläuft zwischen ein- und zweistöckigen Bauten aus vergangenen Jahrhunderten, bis er abends glücklich ins Hotelbett fällt in der Gewissheit, eine Entdeckung gemacht zu haben.

Jurij Schestakow holt tief Luft, als er oben auf dem Baltschug angekommen ist, einem Hügel, der die Stadt überragt und wo sich eine Aussichtsplattform befindet, zu der man über eine wacklige Holztreppe gelangt. Schestakow ist in der Gegend geboren, heute lebt er in der Regionalhauptstadt Kostroma, doch Galitsch ist für ihn ein Sehnsuchtsort geblieben, die „schönste Stadt der Welt“. Dabei ist der ehemalige Seemann in vielen berühmten Hafenstädten auf nahezu allen Kontinenten gewesen, eine davon war Hamburg. Doch nirgendwo hat er solche Hochgefühle erlebt wie hier auf dem Baltschug, wo Galitsch im Mittelalter entstand. 1159 gilt als Gründungsjahr der Stadt, die 1246 zum Mittelpunkt eines eigenen Fürstentums aufstieg und erst im 15. Jahrhundert den Konkurrenzkampf gegen Moskau verlor, von dem es geschluckt wurde.

Zu Füßen des Baltschug liegt  – nein, nicht die Wolga, sondern der mit bloßem Auge kaum zu überblickende Galitschsee, Zierde und Sorgenkind der Stadt. Den besten Eindruck hinterlässt er aus der Ferne. Ortsansässige erzählen, dass er mit jedem Jahr weniger Wasser führe und zunehmend verschlamme. „Ich war schon lange nicht mehr am Strand“, sagt die Dame vom sehenswerten Heimatmuseum. Sie ziehe das neue, tolle Hallenschwimmbad vor.

Im Heimatmuseum heißt es, dass man ab und zu auch Touristengruppen aus Moskau begrüßen dürfe. Doch heimlich hofft man noch auf etwas Anderes: dass Galitsch in den „Goldenen Ring“ altrussischer Städte aufgenommen wird, zu dem etwa Jaroslawl, Susdal und Wladimir zählen. Das könnte ein ganz anderes Licht auf den Ort werfen, der heute noch einen Dornröschenschlaf schläft.

Vom Bahnhof führt die Freiheitsstraße direkt bis zur angenehm unaufgeregten Stadtmitte. Schon von weitem sind die 1830 fertiggestellten Handelsreihen zu erspähen, die Galitsch einen besonderen Charme verleihen. Dass sie intakt sind, verdankt der Ort einem großen Glück: Der Zweite Weltkrieg kam nicht bis hierher, nur die Flugzeuge der Deutschen warfen Bomben auf die Bahnlinie. Es waren die Polen, die vor rund 400 Jahren zuletzt Zerstörung über Galitsch brachten, in der „Zeit der Wirren“ brannten sie die Stadt nieder. Genutzt hat ihnen das nichts, wie die Geschichte weiß und jedes russische Kind in der Schule lernt. In Galitsch erhoben sich die Menschen gegen die Interventen, schlossen sich später der Volkswehr von Minin und Poscharskij an, die gen Moskau zog. Iwan Sussanin, ein Dorfvorsteher aus der Region, führte die polnische Armee an der Nase herum und in die Sümpfe statt zu Michail Romanow, Russlands künftigen Zaren, den die Polen mit aller Macht hatten verhindern wollen. Sussanin wurde zum Nationalhelden, die Sümpfe können heute besichtigt werden – zum Beispiel auf dem Rückweg von Galitsch nach Moskau beim Ort Sussanino. Die Volkswehr warf die Polen aus dem Kreml und beendete eine für die Russen traumatische Fremdherrschaft.

Tino Künzel

 

Anreise und Unterkunft: Nichts einfacher als das

Galitsch ist 450 Kilometer von Moskau entfernt. Die einfachste Form der Anreise ist einer der Nachtzüge vom Jaroslawler Bahnhof in Moskau, die Fahrt dauert acht bis neun Stunden und kostet im Liegewagen ab ca. 12 Euro.

Galitsch

Im Hotel Rus / Tino Künzel

Das beste Hotel in Galitsch ist das „Rus“, eine unprätentiöse Herberge mit zwölf sauberen, geräumigen Zimmern direkt am ehemaligen Stadtwall. Die Preise beginnen bereits bei 13 Euro für eine Person und 18 Euro für zwei Personen im Zwei-Bett-Zimmer.

 

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