Inguschetien: Proteste in der kleinsten Republik

Ein Beschluss hinter verschlossenen Türen, mehrwöchige Demos und ein Gericht, das sich querstellt: In der kleinen Kaukasus-Republik Inguschetien empören sich die Menschen über den neuen Grenzverlauf zum benachbarten Tschetschenien.

Die umstrittene Grenzlinie im Nordkaukaus. /Grafik: Kawkasskij Usel

Als die Journalisten von „Kawkasskij Usel“ ihre Analyse endlich auf den Tisch bekamen, waren sie ziemlich verunsichert. „Die Ergebnisse wichen so stark von den offiziellen Verlautbarungen ab, dass wir uns an einen zweiten Experten gewendet haben“, berichtet das Internetportal für kaukasische Politik auf seiner Seite. Doch auch Sofja Gawrilowa, Geografie-Doktorandin an der renommierten Univerität Oxford, bestätigte die Zahlen.

„Durch die Veränderung der Grenze gehen etwa 26.000 Hektar an Tschetschenien“, schreibt die Expertin in ihrer Einschätzung. „Tschetschenien bekommt 25 Mal mehr Land als Inguschetien.“

Der Grund für die ungleiche Landabgabe im Nordkaukasus: Ende September hatten sich die Anführer der beiden Republiken, der Tschetschene Ramsan Kadyrow und der Ingusche Junus-Bek Jewkurow, in einem Abkommen auf einen neuen Grenzverlauf zwischen ihren Republiken geeinigt. Dabei hätten beide Seiten Zugeständnisse gemacht, versicherten die Politiker. Niemand sei bevorteilt worden.

Massenproteste in der Hauptstadt

Das sahen Tausende Demonstranten, die in der inguschischen Hauptstadt Magas und anderen Orten im Oktober aus Protest auf die Straße gingen, jedoch völlig anders. Tschetschenien werde durch den neuen Grenzverlauf klar bevorteilt, so die Befürchtung der Demonstranten. Die Oppositionsaktivistin Isabella Jewloewa verwies zudem auf den geheimen Charakter der Vereinbarung. Jewkurow und Kadyrow hätten die Einigung hinter verschlossen Türen getroffen und hinterher von ihren Parlamenten absegnen lassen. Die Heimlichtuerei empörte viele Inguschen.

Ungewöhnlich an den Massenproteste in der kleinsten Republik der Russischen Föderation war, dass sich sogar Teile der Polizei mit den Demonstranten solidarisierten. Zudem wurden die unangemeldeten Proteste für zwei Wochen in Magas geduldet und nicht aufgelöst.

Auch das inguschische Verfassungsgericht äußerte sich im Sinne der Protestierenden. Die Neuziehung der Grenze sei nach der inguschischen Verfassung nur nach öffentlichen Anhörungen und einem anschließenden Referendum erlaubt. Beide Bedingungen würden jedoch fehlen.

Gründe für neue Grenze bleiben im Dunkeln

Die Gründe für die neue Grenzziehung gelten auch unter Kennern als undurchsichtig. So spekulierten mehrere Zeitungen über Ölvorkommen auf inguschischer Seite, zu denen sich Ramsan Kadyrow Zugang verschaffen wolle. Spannungen zwischen den beiden Volksgruppen als Grund wurden von den meisten Medien ausgeschlossen. So verwies die Zeitschrift „Russkij Reporter“ auf die traditionelle Nähe der beiden Völker, die in der Sowjetunion in einer gemeinsamen Republik lebten und seit deren Zusammenbruch ohne eine gemeinsame Grenze ausgekommen waren.

Eine Petersburger Expertin tippte auf eine Ausweitung der Einfluss-Sphäre des tschetschenischen Führers. Dieser hatte Ende Oktober zusätzlich Öl ins Feuer gegossen, als er inguschische Protestführer, die ihn öffentlich kritisiert hatten, persönlich mit seiner Eskorte aufsuchte, um Entschuldigungen einzufordern.

Tschetschenien bekommt mehr Land

Nach Berechnungen von „Kawkasskij Usel“ fallen bei einer Umsetzung der Beschlüsse vor allem zwei größere Gebiete an Tschetschenien: ein etwa 6.000 Hektar großes Stück Land nördlich von Magas und ein rund 20.000 Hektar großes Teilstück des inguschischen Nationalparks „Ersi“.

Ob die Entscheidung aber wirklichen bindenden Charakter hat, ist noch ungewiss. Das inguschische Verfassungsgericht stufte das Abkommen der beiden Republik-Führer Ende Oktober per Richterspruch als verfassungswidrig ein. Der gleichzeitig in Nasran tagende erste Weltkongress der Inguschen verabschiedete daraufhin eine Note an Präsident Putin, in dem die Teilnehmer auf das Urteil hinwiesen und einen Stopp der Grenzverhandlungen forderten.

Birger Schütz

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