Praktikum in Russland: Wenn das Unternehmen zum Zuhause wird

Trotz Wirtschaftskrise bleibt Moskau ein attraktives Ziel für Praktikanten aus Deutschland. Dabei hat die Lehrzeit in Russland so ihre Eigenheiten. Was deutsche Studenten beim Praktikum in Moskau erleben – und was ihre Erfahrungen über Alltag und Mentalität der Unternehmen verraten.

Moskau ist ein attraktives Ziel für ein Auslandspraktikum / Foto: Tino Künzel.

Praktika im Ausland sind heiß begehrt. Man lernt eine neue Kultur kennen und sammelt nebenher internationale Erfahrung. So punktet man doppelt bei potentiellen Arbeitgebern in der Heimat. Ein Auslandspraktikum bedeutet jedoch auch die doppelte Anpassung: sowohl an die fremde Kultur, als auch an den Unternehmensalltag. „Ich wurde direkt ins kalte Wasser geschmissen“, erklärt Marija Ruzhitskaya. In Kasachstan geboren, wuchs die Studentin der Uni Münster in Deutschland auf. Um Arbeitserfahrung zu sammeln, kehrte sie zurück gen Osten. Sie steht kurz vor dem Abschluss ihres dreimonatigen Praktikums im Moskauer Büro des deutschen Unternehmens Petkus GmbH. Dabei verlief einiges anders als bei ihren bisherigen Erfahrungen in Deutschland.

Adoption erleichtert Adaption

„Ich wurde sprichwörtlich vom Unternehmen adoptiert – es war wie in einer Familie“, erklärt Ruzhitskaya. Ihre Kollegen, zum Großteil russischer Herkunft, waren überaus herzlich und in jeder Situation für sie da. In der ersten Woche meldete sich sogar der Chef persönlich, um sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkunden. Bei Geburtstagen versammelte sich das ganze Team. „Man verbringt einfach viel mehr Zeit im Büro“, so Ruzhitskaya weiter.  Ihre Arbeitszeiten waren viel flexibler als in Deutschland, wobei die Studentin gelernt habe, sich ihren Arbeitstag frei einzuteilen. Stand ein großes Projekt an, blieb die Praktikantin wie auch der Rest des Teams wie selbstverständlich länger. „Ob man in einer Woche 60 und in einer anderen 20 Stunden arbeitet – das läuft doch im Endeffekt auf dasselbe hinaus.“

Man wurde sprichwörtlich vom Unternehmen adoptiert – es war wie in einer Familie.

Waldemar Votteler, von April bis Oktober 2016 Praktikant bei der Siemens AG in Russland, machte andere Erfahrungen: „Die Erwartungshaltung an mich war geringer als in Deutschland. Herausfordernd fand ich es, immer wieder proaktiv nach Aufgaben zu fragen, damit keine Langeweile aufkommt.“ Das liege vielleicht darin begründet, dass es den Status „Praktikant“ an sich so nicht gebe, überlegt Votteler.

Praktikakultur im Wandel

Während sich in Deutschland der Berufseinstieg für Hochschulabsolventen ohne Praxiserfahrung als schwer erweisen könnte, sind nach einer Studie von  „Superjob.ru“ tatsächlich über 60 Prozent der Arbeitnehmer in Russland bereit, Berufseinsteiger ohne Vorerfahrung einzustellen. „Leider sind in Russland die vor dem Berufseinstieg so wichtigen Praktika nur in einigen Bereichen verbreitet. Wie beispielsweise in der Medizin, dem Bankwesen und in der IT-Sphäre“, erklärt Ivan Kusnezow, Karriere-Experte der Internet-Plattform „Superjob.ru“. Praktika bei großen Konzernen seien üblicher als bei kleinen und mittelständischen Unternehmen. Mit der Anpassung des russischen Bildungssystems an die Bologna-Reform vor vier Jahren habe jedoch ein Umbruch stattgefunden. „Studenten begannen, sich für Praktika zu interessieren, um ihre Karrierechancen zu erhöhen. Die Praktikakultur befindet sich im Wandel.“

Improvisation statt Schema F

Auch Mykyta Kushnir, Bochumer Wirtschaftsstudent mit deutsch-ukrainischem Hintergrund, machte seine Erfahrungen in Russland. „Es gibt kein Schema F, dem einfach gefolgt werden muss, wie in Deutschland. Deshalb ist Improvisation sehr bedeutend im russischen Arbeitsalltag”, so Kushnir. Der 23-Jährige arbeitete sechs Monate für die deutsch-österreichische Unternehmensberatung Swilar. Auch er bestätigt eine familiäre Atmosphäre. „Die persönliche Ebene spielte in meinem Unternehmen die entscheidende Rolle. Manchmal sogar eine wichtigere im Vergleich zur Qualifikation, wie ich den Eindruck gewann.“

„Russland hat seine eigene Unternehmenskultur, die von der Deutschlands abweicht“, erklärt Natalija Gusewa, eine auf Unternehmenskultur spezialisierte Professorin an der Higher School of Economics. Seit fünf Jahren leitet sie das deutsch-russische Praktikantenprogramm „Russland in der Praxis“.

Starker Chef und Multi-Tasking

Nach Aussage der Expertin ist Russland nicht nur durch klare Führungsstrukturen, sondern durch eine größere Distanz zwischen den einzelnen Führungsebenen charakterisiert. „Der Führungsstil des starken Chefs dominiert bis heute“, so Gusewa. „Die Mitarbeiter erwarten klare Anweisungen und übernehmen gleichzeitig weniger Verantwortung“, sagt sie. Des Weiteren wären russische Unternehmen vor allem „kollektivistisch orientiert“. Das heißt, dass persönliche Interessen der Gruppe untergeordnet werden. Das wiederum führe zu einer familienähnlichen Atmosphäre. Die Unterschiede zur deutschen Unternehmenskultur betrifft auch die Arbeitsweise. „Während Deutsche ihre Aufgaben der Reihe nach erledigen, arbeiten Russen permanent an mehreren Aufgaben gleichzeitig“, so Gusewa. „Ein gewisses Gespür für kulturelle Besonderheiten ist unverzichtbar für zukünftige Führungskräfte.“ Unterschiedliche Kulturen müssten nicht zwangsläufig zum Konflikt führen – sie könnten zum Vorteil der Firma genutzt werden.

Die Erfahrungen der Praktikanten zeigen: In russischen Unternehmen läuft vieles anders ab als in Deutschland. In einem sind sie sich nach dem Ende ihrer Lehrzeit in Russland doch alle einig: „Das Abenteuer lohnt sich.“

Christopher Braemer

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: